Gehirn-EEG-Wearable: Stress messen, verstehen, lindern

Awear ist ein hinter dem Ohr getragenes EEG‑Wearable, das Gehirnwellen misst, Stress erkennt und KI‑gestützte Coaching‑Impulse liefert. Der Artikel beschreibt Technik, Forschung, Geschäftsmodell und Zukunftsperspektiven.

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Gehirn-EEG-Wearable: Stress messen, verstehen, lindern

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Ein Wearable, das auf Ihr Gehirn hört statt auf Ihren Herzschlag, will Stressmanagement in etwas Greifbares verwandeln, das Sie messen, verfolgen und gezielt verbessern können – ähnlich wie tägliche Schritte oder Schlafdaten.

Als der Telekom‑Manager und Ingenieur Antonio Forenza bemerkte, dass er am Ausbrennen war, suchte er nach einer Art „Fitbit für Stress“. Einige Jahre zuvor hatte er mit Hilfe einer Apple Watch 40 Pfund abgenommen und dabei Schritte und Kalorien akribisch gezählt. Natürlich fragte er sich: Warum gibt es kein Wearable, das einem hilft, „40 Pfund Stress“ loszuwerden?

Da es kein solches Gerät gab, entschied er sich, eines zu entwickeln.

Ein gehirnüberwachendes Wearable, das hinter dem Ohr sitzt

Statt einen völlig neuen Sensor zu erfinden, griff Forenza auf eine bewährte medizinische Technologie zurück: das Elektroenzephalogramm, kurz EEG. Das EEG wird seit mehr als einem Jahrhundert in Kliniken eingesetzt, um elektrische Aktivität des Gehirns zu überwachen und Erkrankungen wie Epilepsie oder Schlafstörungen zu diagnostizieren.

EEG kann aber auch alltägliche Zustände sichtbar machen: etwa, wie gestresst jemand ist. Verbringt das Gehirn längere Zeit in hochfrequenten Beta‑Wellen – Mustern, die mit Wachsamkeit und mentaler Belastung assoziiert werden – kann dies in Erschöpfung, Schlafstörungen, Angstzuständen und chronischem Stress münden. Die Analyse von Frequenzbändern (Delta, Theta, Alpha, Beta, Gamma), Leistungsdichten und zeitlichen Mustern liefert dabei aussagekräftige Biomarker für kognitive Belastung und Stressreaktionen.

In Zusammenarbeit mit Datenwissenschaftlern und biomedizinischen Ingenieuren verwandelte Forenza dieses klinische Standardinstrument in ein Consumer‑Gadget namens Awear: einen kompakten Sensor, der unauffällig hinter dem Ohr getragen wird und kontinuierlich Gehirnwellen über den Tag hinweg misst. Die Wahl des hinter‑dem‑Ohr‑Placements zielt auf hohen Tragekomfort und Alltagstauglichkeit, während spezialisierte Elektroden und Algorithmen Artefakte (z. B. Bewegung oder Muskelaktivität) filtern, um verwertbare Signale zu erhalten.

Das Gerät streamt die Rohdaten an eine Begleit‑App, die die elektrischen Signale des Gehirns in verständliche Einblicke zu Stimmung, kognitiver Belastung und Stresslevel übersetzt. Darauf aufbauend liefert Awear KI‑gestützte Coaching‑Vorschläge – kurze, kontextbezogene Impulse, die Nutzer:innen helfen sollen, aus dem dauerhaften „Kampf‑oder‑Flucht“‑Modus auszusteigen und emotionale Resilienz aufzubauen. Die Empfehlungen reichen von kurzen Atemübungen und geführten Pause‑Routinen bis zu personalisierten Verhaltenshinweisen, die auf den individuellen Mustern des EEGs basieren.

„Unser Gehirn ist außerordentlich gut darin, sich selbst zu regulieren und uns glauben zu machen, dass wir nicht gestresst sind“, sagt Forenza. „Es ist okay, gelegentlich im ‚Kampf‑oder‑Flucht‘‑Modus zu sein. Das gehört zu unserer Natur. Wenn man jedoch dauerhaft in diesem Modus verharrt, kann das zu chronischem Stress, Depressionen und Angststörungen führen.“ Indem Awear längere Perioden erhöhter Beta‑Aktivität identifiziert und markiert, soll das System Nutzer:innen ermöglichen, rechtzeitig gegenzusteuern, bevor sich Stress in schwerer umkehrbare Zustände verwandelt. Technisch basiert dieses Vorgehen auf Schwellenwerten, adaptiven Baselines und einer Kombination aus kurzfristigen Alarmsignalen und langfristigen Trendanalysen.

Von Krankenhaus‑Technik zum Wellness‑Begleiter für Verbraucher

Awear positioniert sich in einer schnell wachsenden Nische zwischen medizinischer Überwachung in Klinikqualität und Lifestyle‑Wearables. Während Smartwatches, Ringe und andere Fitness‑Tracker häufig auf indirekte Indikatoren wie Herzfrequenzvariabilität (HRV), Hautleitfähigkeit oder Schlafmuster setzen, um Stress abzuschätzen, greift Awear direkt die Quelle an: die elektrische Aktivität des Gehirns. Diese direkte Messung kann in bestimmten Anwendungsszenarien sensitiver und spezifischer sein als physiologische Proxys.

Dieser Ansatz hat bereits Forschende auf sich gezogen. Die Psychiatrie‑Abteilung der Stanford University testet das Gerät derzeit, um Verwirrungszustände und Desorientierung bei älteren Patient:innen nach Operationen zu überwachen – Komplikationen, die oft subtil auftreten und leicht übersehen werden. Erste Forschungsansätze deuten darauf hin, dass EEG‑basierte Wearables Hinweise liefern können, die sich klinisch verwertbar ergänzen lassen, etwa zur Früherkennung postoperativer Delirien oder zur Verlaufsbeobachtung neurokognitiver Erholungsprozesse.

Gleichzeitig betont Forenza, dass das primäre Ziel des Unternehmens der Konsumentenmarkt ist. Die Strategie erinnert an etablierte Wege in der Wearable‑Branche: Awear soll als tragbares Gerät der nächsten Generation für Wissensarbeitende, Gründer:innen und Menschen positioniert werden, die in einem dauerhaften Zustand von Benachrichtigungsüberlastung leben – ähnlich wie der Oura‑Ring Schlaf und Erholung zu erstrebenswerten Kennzahlen für technikaffine Early Adopter gemacht hat. Diese Zielgruppe legt Wert auf datenbasierte Selbstoptimierung, Datenschutz und nahtlose Integration in den Alltag.

Awear erhielt bereits Branchenanerkennung: Als Finalist des Startup Battlefield 200 bei TechCrunch Disrupt 2025 gewann das Unternehmen den ersten Preis in der Health‑Kategorie der Pitch‑Competition. Solche Auszeichnungen sind in einem Sektor wichtig, der oft an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Selbstoptimierung oszilliert; Validierung durch Fachveranstaltungen und wissenschaftliche Partner stärkt die Glaubwürdigkeit gegenüber kritischen Kund:innen und potenziellen klinischen Anwendern.

Early Access jetzt, Crowdfunding und Expansion später

Zur Finanzierung der nächsten Wachstumsphase schloss das Startup eine Pre‑Seed‑Finanzierung ab, angeführt von Investoren wie Hustle Fund, Niremia Collective, Techstars und The Pitch Fund. Das Unternehmen bereitet nun eine Seed‑Runde in Höhe von rund 5 Millionen US‑Dollar vor, geplant für Anfang 2026, um Produktion hochzufahren, die Softwarefunktionalitäten zu erweitern und zusätzliche Anwendungsfälle mit klinischen und akademischen Partnern zu validieren. Die Finanzierung soll neben Fertigungsvolumina auch in Forschung, regulatorische Vorbereitung und Qualitätssicherung fließen.

Aktuell ist Awear nur über ein Early‑Access‑Programm erhältlich. Das Gerät kostet 195 US‑Dollar und enthält ein lebenslanges App‑Abo – eine ungewöhnliche Entscheidung in einem Markt, in dem wiederkehrende Abonnements mittlerweile die Regel sind. Dieses Modell kann als strategisches Angebot verstanden werden, um frühe Nutzer:innen zu gewinnen und eine engagierte Community aufzubauen, ohne die Akzeptanz durch zusätzliche wiederkehrende Kosten zu belasten. Erwartungsgemäß zählen viele der ersten Käufer:innen andere Startup‑Gründer:innen und Betreiber:innen zu ihrer Nutzerschaft – eine demografische Gruppe, die das Risiko chronischer beruflicher Belastung besonders verdeutlicht.

Sobald die Seed‑Finanzierung gesichert ist, plant Awear eine Kickstarter‑Kampagne und orientiert sich damit an Erfolgspfaden von Marken wie Peloton oder Oura, die Crowdfunding nutzten, um Produktion zu finanzieren und gleichzeitig eine lautstarke Early‑Community aufzubauen. Crowdfunding dient hierbei nicht nur als Finanzierungsinstrument, sondern auch als Marketing‑ und Validationskanal: Sichtbarkeit, frühe Kundenrückmeldungen und Community‑Engagement lassen sich dadurch gezielt steigern.

„Das ist ein Weg, der für viele andere Wearables funktioniert hat“, erklärt Forenza. „Er verschafft enorme Sichtbarkeit und ist ein guter Kanal zur Kundenakquise.“ Für eine völlig neue Kategorie – gehirnwellengetriebenes, KI‑gestütztes Stress‑Coaching – könnte diese Sichtbarkeit genauso wichtig sein wie die zugrunde liegende Neurowissenschaft. Gleichzeitig verlangt der Markteintritt Nachweise hinsichtlich Genauigkeit, Nutzwert und Datenschutz, um Vertrauen bei Nutzer:innen, Forschenden und potenziellen Gesundheitspartnern zu gewinnen.

Ob Awear letztlich das bevorzugte ‚Fitbit für das Gehirn‘ wird oder nicht, zeigt in jedem Fall, in welche Richtung die nächste Welle der digitalen Gesundheit geht: weg vom bloßen Zählen von Schritten und Herzschlägen, hin zum direkten Messen von Vorgängen im Geist. Langfristig sind Anwendungen denkbar, die von personalisiertem Neurofeedback über die Unterstützung psychotherapeutischer Interventionen bis zur Integration in betriebliche Gesundheitsprogramme reichen. Entscheidend werden belastbare Studien, regulatorische Klarheit, transparente Datenverarbeitung und eine Nutzerzentrierung sein, die Wissenschaft, Technik und Ethik zusammenbringt.

Quelle: techcrunch

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