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Ein mutiges, eigenwilliges Werk von Romain Gavras
Romain Gavras’ englischsprachiges Debüt, Sacrifice, feierte in Toronto als Special Presentation Premiere und lässt sich nicht in eine einzige Schublade pressen. Gleichteile schwarze Komödie, Öko-Satire und Folk‑Horror-Fabel, verarbeitet der Film zeitgenössische Sorgen um Klimawandel, Promi-Aktivismus und performative Philanthropie zu einer unvorhersehbaren und oft berührenden filmischen Fahrt. Mit Chris Evans und Anya Taylor-Joy im Zentrum eines explosiven Ensembles stellt Sacrifice eine überraschend dringliche Frage: Was zählt heute eigentlich als Heldentat in einer Ära von Optik und Empörung?
Zusammenfassung: Geiseln, Heuchelei und das Dekret eines Vulkans
Die Geschichte beginnt mit Joan (Anya Taylor-Joy), die eine ritualisierte Beerdigung vor einem Vulkan leitet, und schwenkt schnell zu einem ultra-wohlhabenden Öko-Galaereignis, das in einer kargen griechischen Mine stattfindet. Mike Tyler (Chris Evans), ein Hollywood-Star, der einen öffentlichen Zusammenbruch durchmacht, sorgt für virale Aufmerksamkeit, als er den prominentesten Philanthropen der Veranstaltung, Ben Bracken (Vincent Cassel), in einem Live-Video zur Rede stellt. Schon bald wird die Gala von Joan und ihrer Jugendbrigade gestürmt; Tyler wird in ein morbides Schicksal gedrängt und gehört zu den drei Personen, die als titelgebende Opfer ausgewählt werden, um eine apokalyptische Katastrophe abzuwenden. Der Geiselnahme-Status erzeugt zunächst Satire und Spott, entwickelt sich dann aber zu einer unwohlläufigen menschlichen Verbindung und moralischen Abrechnung.
Schauspiel und Figuren
Chris Evans untergräbt sein heldenhaftes Image mit einer vielschichtigen, teils brüchigen Darstellung eines Stars, der zunächst mehr Image als Innenleben ist und durch die Umstände allmählich umgeformt wird. Anya Taylor-Joy verleiht Joan eine beklemmende, ritualisierte Ernsthaftigkeit—eine fast mythische Anführerin, die wegen ihrer Überzeugung eher furchteinflößend ist als allein durch Gewalt. Vincent Cassels Bracken verkörpert den glänzenden Räuber des grünen Kapitalismus, während John Malkovich als skeptische Stimme alten Weltdenkens einen kurzen, aber denkwürdigen Akzent setzt. Das Ensemble, zu dem auch Salma Hayek Pinault und überraschende Cameos von Musiker*innen gehören, hält die Energie explosiv.
Stilistische DNA: Musikvideos, Mythos und moderne Wut
Gavras’ Hintergrund als Regisseur kinetischer, provokativer Musikvideos zeigt sich in Sacrifice’s visueller Kühnheit: plötzliche Gewaltstöße, choreografiertes Chaos und Tableaus, die sowohl für Kameras als auch für Kultmythen inszeniert wirken. Wer Gavras’ frühere Kurzformen kennt, erkennt seinen Appetit auf Spektakel; hier verbindet er diese Vorliebe mit einer Erzählung, die sich in mythische Strukturen lehnt—geistig fast mit dem Einfluss von The Golden Bough auf Kultkino verwandt—und dem modernen Celebrity-Industriekomplex begegnet.

Vergleiche und Kontext
Sacrifice reiht sich ein in eine Linie von Filmen, die Ritual und Moderne verschmelzen: Es klingt nach The Wicker Man und dessen Fruchtbarkeits- und Glaubensängsten an, erinnert an das unheimliche Kinder-regieren-Gefühl von The Village und an die unfreiwilligen Heldenströme in Filmen, die von mythischen Archetypen geprägt sind. Zugleich gibt es eine tonale Verwandtschaft zu Satiren über Promi-Moral—denken Sie an Werke wie Sorry to Bother You oder The Menu—während der Film in seiner Brutalität und seinem schwarzen Humor unverkennbar Gavras bleibt.
Blicke hinter die Kulissen & Trivia
Berichten zufolge wurde an Originalschauplätzen in Griechenland gedreht; die Produktion setzte auf raue, vulkanische Landschaften sowohl als Spektakel als auch als Metapher. Gavras’ Entscheidung, die Gala in einer Mine anzusiedeln, fungiert gleichzeitig als visueller Gag über Extraktionsökonomien—eine Idee, die sich durch das Produktionsdesign und wiederkehrende Motive des Films zieht. Fans der Musikvideos des Regisseurs werden seine Signatur erkennen: plötzliche, opernhafte Eskalationen von Gewalt und perfekt getimte visuelle Schocks, die die Satire durchbohren.
Kritische Betrachtung: Wie 'Sacrifice' über Klima und Prominenz spricht
Sacrifice ist mehr als Provokation; der Film stellt eine kulturelle Frage zu symbolischen Gesten versus wirklichem Wandel. Das Drehbuch hinterfragt das Ouroboros performativen Umweltbewusstseins—medienfreundliche Versprechen, die sich wieder in die Systeme zurückwinden, die sie zu bekämpfen vorgeben. Die Tonwechsel des Films können irritierend sein, doch diese Wechsel sind absichtsvoll: Lachen fällt in Furcht zusammen, Spektakel in Empathie. Es ist ein Film, der genauso verstören will wie unterhalten.
Filmkritikerin Anna Kovacs, Filmhistorikerin, ergänzt: „Gavras hat immer mit Schock gearbeitet, aber 'Sacrifice' schichtet diesen Schock mit echtem Gefühl. Es zwingt uns, über Schlagzeilen und Promi-Entschuldigungen hinauszublicken, um die menschlichen Einsätze des Klimakollapses zu verstehen.“
Wer es lieben wird — und wer nicht
Sacrifice belohnt Zuschauerinnen und Zuschauer, die Filme schätzen, die Satire mit mythischer Ernsthaftigkeit verbinden und sich auf abrupte Tonwechsel einlassen. Er kann Zuschauer frustrieren, die eine reine Komödie oder eine konventionelle Klimaparabel erwarten. Für Cineasten, die risikofreudiges Filmemachen und Schauspieler*innen sehen möchten, die gegen ihren Typ spielen, ist es jedoch ein fesselndes und oft überraschendes Erlebnis.
Fazit: Eine provokante, emotional verwurzelte Satire
Romain Gavras hat einen Film abgeliefert, der gleichermaßen theatralische Provokation und unerwartet zärtliches menschliches Drama ist. Sacrifice rahmt Promikultur und Klimaangst durch mythisches Ritual und schwarzen Humor neu und hinterlässt einen emotionalen Nachklang, der über die Witze hinauswirkt. Ob als Kritik an performativer Tugend oder als Appell für echte Opfer—der Film beansprucht seinen Platz im zeitgenössischen Kino als kühnes, diskussionsanregendes Werk.
Filmdetails: Titel: Sacrifice. Festival: Toronto (Special Presentations). Regie: Romain Gavras. Drehbuch: Will Arbery, Romain Gavras. Besetzung: Chris Evans, Anya Taylor-Joy, Vincent Cassel, Salma Hayek Pinault, John Malkovich, Ambika Mod, Charli XCX, Yung Lean. Laufzeit: 1 Std. 43 Min.
Quelle: deadline
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