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Branche wehrt sich gegen umfassenden Kulturboykott
Mehr als 1.200 Namen aus Film, Fernsehen und Musik haben ihre Unterschrift unter einen neuen offenen Brief gesetzt, der sich gegen einen weithin veröffentlichten Aufruf zum Boykott israelischer Filminstitutionen richtet. Die Erklärung — organisiert von den gemeinnützigen Gruppen Creative Community for Peace und The Brigade — fordert Künstlerinnen und Künstler, die versprochen hatten, israelische Institutionen zu meiden, dazu auf, ihre Entscheidung zu überdenken. Die Verfasser warnen, dass ein solcher pauschaler Boykott künstlerische Stimmen zensieren und kulturelle Gräben vertiefen könnte.
Der offene Brief betont, dass es bei kulturellen Konflikten oft nuancierte Zwischentöne gibt und dass pauschale Maßnahmen die Vielfalt innerhalb einer Filmszene ignorieren. Viele Signierende sehen in dem Appell eine Gefahr für die Meinungs- und Kunstfreiheit sowie für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die in der Filmbranche seit Jahrzehnten zur Produktion anspruchsvoller, kritischer Werke beiträgt. Zugleich rufen die Unterzeichnenden dazu auf, politische Positionen nicht durch pauschale Ausgrenzung, sondern durch gezielte, verantwortliche Maßnahmen zum Ausdruck zu bringen.
Die Kritik richtet sich weniger gegen das Recht auf politischen Protest als gegen die Methodik eines kollektiven Ausschlusses: Dieser könne, so die Verfasser, die ohnehin verletzlichen Netzwerke zwischen Künstlerinnen, Produzenten, Festivalbetreibern und Verleihern zerstören und den Zugang zu Plattformen einschränken, auf denen kontroverse, aber notwendige Geschichten sichtbar werden.
Bekannte Namen und das Spektrum der Unterzeichner
Unter den Unterzeichnenden finden sich bekannte Gesichter aus Bühne und Leinwand wie Liev Schreiber, Mayim Bialik und Debra Messing sowie zahlreiche Musiker, Produzenten und Führungskräfte der Branche. Die Liste umfasst sowohl etablierte Stars als auch unabhängige Filmschaffende, Festivalmacher und internationale Branchenkenner. Diese Bandbreite soll signalisieren, dass die Sorge um künstlerische Freiheit in verschiedenen Teilen der Industrie geteilt wird.
Die Initiatoren betonen, dass es ihnen nicht nur um prominente Namen geht, sondern um die Stimmen vonjenigen, die hinter den Kulissen arbeiten: Redakteure, Kameraleute, Produzentinnen, Festivalprogrammkuratoren und Vertriebsmanager, die in ihrer täglichen Arbeit auf internationale Kooperationen angewiesen sind. Viele der Unterzeichnenden argumentieren, dass ein Boykott juristische und finanzielle Hürden schaffen würde, die kleinere Produktionen und unabhängige Regisseurinnen unverhältnismäßig hart treffen könnten.
Gleichzeitig stellen Vertreter aus unterschiedlichen Ländern fest, dass kulturelle Kooperationen oft Brücken bauen, wo politische Dialoge stocken. Gemeinsame Filmprojekte, Koproduktionen und Festivals schaffen Räume für Begegnung, für geteilte Perspektiven und für künstlerische Kritik — auch gegenüber den eigenen Regierungen. Diese Vielstimmigkeit im israelischen Kino, so die Unterzeichnenden, würde ein pauschaler Boykott leicht ausblenden.
Worum es im offenen Brief geht
Die zentrale Aussage des neuen offenen Briefs lautet, dass Kultur und Erzählkunst instrumentalisiert werden, wenn ein genereller Boykott bestimmte Künstlerinnen und Künstler allein wegen ihrer Staatsangehörigkeit oder institutionellen Zugehörigkeit ausschließt. Die Verfasser betonen, dass das israelische Kino keine monolithische Einheit ist: In der Branche existieren kritische, kooperative und abweichende Stimmen — darunter jüdische und palästinensische Filmschaffende, die häufig gemeinsam an Produktionen und Festivals arbeiten und dabei nicht selten offizielle politische Positionen hinterfragen.
Der Brief warnt ausdrücklich vor unscharfen Begriffen wie „verstrickt“ oder „Komplizenschaft“. Solche Begriffe könnten, so die Autorinnen und Autoren, als diffuse Kriterien dienen, um ganze Gemeinschaften auf eine schwarze Liste zu setzen, anstatt konkrete, nachprüfbare Vorwürfe gegen einzelne Institutionen oder Personen zu richten. In der Praxis drohe dadurch eine Pauschalisierung, die die Unterscheidung zwischen staatlicher Politik und individueller künstlerischer Arbeit verwischt.
Zur Untermauerung des Arguments ziehen die Verfasser historische Beispiele heran: In der Vergangenheit hätten Zensurlisten und kulturelle Ausgrenzungen sich häufig schrittweise ausgeweitet und im Ergebnis dann nicht nur diejenigen getroffen, die möglicherweise mit staatlichen Strukturen kollaborierten, sondern auch kritische und oppositionelle Kulturschaffende. Die Gefahr sei, dass die ursprüngliche Intention eines Boykotts — etwa als politisches Druckmittel gegen Institutionen — durch eine breite Anwendung der Terminologie verloren gehe.
Der offene Brief plädiert daher für differenzierte Strategien: gezielte, documentierbare Maßnahmen gegenüber Einrichtungen oder Personen, denen konkrete Rechtsverletzungen vorgeworfen werden, kombiniert mit fortgesetztem Schutz und Förderung der freien künstlerischen Praxis. Auf diese Weise ließe sich politischer Protest mit dem Erhalt pluraler Kultur- und Austauschformen vereinbaren.
Kontext: der ursprüngliche Boykottaufruf und seine Unterstützer
Der Boykottaufruf, der erstmals Anfang September kursierte, fordert Unterzeichnende dazu auf, nicht mit israelischen Institutionen und Firmen zusammenzuarbeiten, die beschuldigt werden, „an Genozid und Apartheid gegen das palästinensische Volk beteiligt“ zu sein. Unter dem Banner Film Workers for Palestine sammelte dieser Aufruf Berichten zufolge fast 4.000 Unterschriften von internationalen Filmschaffenden, Schauspielerinnen und Branchenprofis.
Befürworterinnen und Befürworter argumentieren, ein kultureller Boykott sei ein legitimes und bewährtes Mittel, um Druck auf Regime und Institutionen auszuüben — vergleichbar mit früheren international wirksamen Kampagnen gegen Staaten oder Organisationen. Sie verweisen auf Fälle, in denen isolierende Maßnahmen politischen Wandel beschleunigt oder zumindest Aufmerksamkeit auf drängende Menschenrechtsfragen gelenkt hätten.
Gegner des Boykotts kontern, dass das Verweigern von Plattformen für Künstlerinnen und Künstler allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit unabhängige Schaffende bestrafe, öffentliche Debatten einschränke und unbeabsichtigte kulturelle Schäden verursachen könne. Sie warnen davor, dass die Schließung von Dialogkanälen diejenigen Stimmen ausblendet, die innerhalb ihrer Gesellschaft gegen Ungerechtigkeiten arbeiten — und damit das Ziel eines politischen Wandels untergraben könnte.
The Sea, Auszeichnungs-Politik und praktische Folgen
Aktuelle Ereignisse haben die Debatte zusätzlich angeheizt. Ein israelischer Film, der sich um einen jungen palästinensischen Jungen dreht — The Sea — gewann den Hauptpreis bei den Ophir Awards in Israel und wurde als nationale Einreichung für den internationalen Oscar-Wettbewerb vorgeschlagen. Diese Auswahl löste eine politische Kontroverse aus: Der Sport- und Kulturminister kündigte öffentlich an, die Finanzierung der Preisverleihung zu kürzen. Dieser Vorfall macht deutlich, wie Entscheidungen in Festivals und bei filmischer Anerkennung mit nationaler Politik verknüpft werden können und warum viele Filmschaffende befürchten, dass ein Boykott kritische Stimmen verstummen lassen könnte.
Die Kontroverse um The Sea illustriert mehrere Ebenen des Problems: Einerseits zeigt sie, dass künstlerische Leistungen international anerkannt werden können, obwohl sie inhaltlich sensible oder politisch kritische Themen behandeln. Andererseits verdeutlicht sie, wie staatliche Eingriffe in Kulturförderung unmittelbare Konsequenzen für Festivals, Preisträger und das gesamte Umfeld haben können — etwa in Form von Budgetkürzungen, Programmveränderungen oder öffentlicher Delegitimierung.
Praktisch kann ein Boykott zudem die Finanzierung internationaler Koproduktionen erschweren. Förderinstitutionen, Steueranreize und private Geldgeber reagieren sensibel auf politische Risiken; wenn ein Land oder eine Institution auf schwarzen Listen steht, sinken die Chancen für Co-Finanzierungen, Koproduktionsverträge werden komplizierter, und die Planungssicherheit für Projekte mit gemischten Teams nimmt ab. Das trifft besonders Filme, die kontroverse Themen behandeln und daher ohnehin schon höhere Hürden bei der Kommerzialisierung haben.
Reaktionen der Branche: Studios, Festivals und die Geschichte kultureller Boykotte
Einige bedeutende Akteure der Branche haben sich gegen den Boykott ausgesprochen. Paramount veröffentlichte beispielsweise eine Stellungnahme, in der das Unternehmen Aufforderungen zurückweist, einzelne Künstlerinnen und Künstler aufgrund ihrer Herkunft zum Schweigen zu bringen. Stattdessen plädiert der Konzern für verstärkten Dialog und Engagement statt für Ausschluss. Diese Position spiegelt frühere kulturpolitische Debatten wider — etwa die gespaltenen Reaktionen auf Boykottaufrufe gegen russische Kulturinstitutionen nach 2022 oder die lange Geschichte politisch motivierter Ausgrenzungen, die Filmemacherinnen und Filmemacher in anderen Zeiten betroffen haben.
Filmhistorikerinnen und -historiker sowie Kritikerinnen und Kritiker weisen darauf hin, dass Kunst sowohl ein Forum des Widerstands als auch ein Ziel politischer Kampagnen sein kann. In vielen historischen Fällen führten pauschale Verbote nicht dazu, dissidente Stimmen zu schützen; im Gegenteil, sie verlagerten die öffentliche Debatte, stärkten populistische oder hardline Positionen und schränkten die Vielfalt der künstlerischen Produktion ein. Die Lehre daraus sei, bei Maßnahmen gegen Kulturinstitutionen sehr vorsichtig zu sein und stets die möglichen Kollateralschäden für kritische Kulturschaffende zu bedenken.
Gleichzeitig gibt es Beispiele, in denen kulturelle Maßnahmen durchaus politisch wirksam waren. Entscheidend erscheint, dass solche Aktionen zielgerichtet, transparent und mit klaren Kriterien durchgeführt werden — und dass sie sich auf Institutionen oder Praktiken konzentrieren, für die konkrete Verantwortlichkeiten nachgewiesen werden können.
Vergleiche und kulturelle Perspektiven
Für Leserinnen und Leser, die Filme verfolgen, die sich mit Israel–Palästina-Dynamiken beschäftigen, erinnert die aktuelle Debatte an frühere Produktionen, die nationale Narrative verwischten: Werke wie Ajami, Paradise Now und Foxtrot nutzten hybride Produktionsmodelle und gemeinsame Teams, um schwierige, oft kontroverse Geschichten zu erzählen. Solche Filme zeigen, dass Koproduktionen und kollaboratives Kino Räume für Empathie und komplexe Perspektiven öffnen können — genau das, was Befürworterinnen und Befürworter grenzüberschreitender kultureller Zusammenarbeit bewahren wollen.
Zugleich fällt die aktuelle Boykottdiskussion in einen größeren Trend: Kreative setzen zunehmend kollektive Erklärungen ein, um politische Anliegen zu unterstützen. Dieser Kollektivismus kann starke Signale senden, birgt aber auch das Risiko, dass Nuancen verloren gehen. Die Spannung besteht nun darin, ob kollektives Handeln hilft, gerechte Veränderungen zu erzielen, oder ob es fragile Ökosysteme beschädigt, die kontroverse oder kritische Filme überhaupt erst ermöglichen.
"Wenn man den Diskurs auf Ausschluss reduziert, besteht die Gefahr, dass genau jene Künstler zum Schweigen gebracht werden, die den Status quo infrage stellen", sagt der Filmhistoriker Marko Jensen. "Kulturelle Sanktionen treffen mitunter die falschen Leute — unabhängige Regisseure und Festivalprogrammkuratoren, die oft die lautesten Kritiker ihrer Regierungen sind." Diese Perspektive unterstreicht, dass politische Maßnahmen gegen Kulturinstitutionen sorgfältig abgewogen werden müssen, um nicht unbeabsichtigt die Meinungsvielfalt zu beschneiden.
Über die politischen Argumente hinaus hat ein Boykott handfeste praktische Folgen: Er kann Festivals in ihrer Programmplanung einschränken, die internationale Distribution politisch sensibler Filme erschweren und die Finanzierung von Projekten mit gemischten Besetzungen und Crews verkomplizieren. Solche Effekte betreffen nicht nur große Studios, sondern vor allem unabhängige Produzentinnen und Produzenten, die auf flexible internationale Netzwerke angewiesen sind.
Was das für Filmschaffende und das Publikum bedeutet
Die Debatte ist mehr als eine Abfolge öffentlichkeitswirksamer Erklärungen; sie hat konkrete Auswirkungen in Filmschulen, Produktionsbesprechungen und Festivalprogrammen. Künstlerinnen und Künstler, die zwischen solidarischen Bewegungen und dem Wunsch nach offenem künstlerischem Austausch stehen, müssen abwägen, ob öffentlicher Druck oder private Vermittlung mehr zur Förderung von Gerechtigkeit und Sicherheit beitragen.
Für Filmfans und Brancheninsider stellt sich eine Reihe dringender Fragen: Können Festivals weiterhin Räume für umstrittene, aber notwendige Geschichten bieten? Überleben internationale Kooperationen in einem Klima kategorischer Boykotte? Und wie sollen Filmschaffende moralische Verpflichtungen mit dem Handwerk des Geschichtenerzählens in Einklang bringen, ohne die Produktion und Sichtbarkeit provokativer Werke zu gefährden?
Die neue offene Erklärung appelliert am Ende an Kolleginnen und Kollegen, Engagement statt Auslöschung zu priorisieren und die langfristigen kulturellen Kosten eines Ausschlusses ganzer Künstlergemeinschaften zu bedenken. Ob dieses Argument diejenigen beeinflussen wird, die den ursprünglichen Boykottaufruf unterzeichnet haben, bleibt offen — doch der öffentliche Austausch über die Vor- und Nachteile solcher Maßnahmen ist selbst Teil des demokratischen Prozesses.
Ein kurzer Schlussgedanke: Das Kino war und ist oft der Ort, an dem schwierige Gespräche beginnen. Diese Kontroverse ist schmerzhaft, doch sie könnte die Branche auch dazu zwingen, klarer zu definieren, wie sie künstlerische Freiheit schützt und gleichzeitig auf politische Krisen reagiert. Letztlich geht es darum, Wege zu finden, die sowohl politisch wirksam als auch kulturell verantwortbar sind — und die Vielfalt der filmischen Stimmen zu bewahren, die für kritische Debatten unverzichtbar sind.
Quelle: variety
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