Warum eine breite Altcoin-Saison unwahrscheinlich ist

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Warum eine breite Altcoin-Saison unwahrscheinlich ist

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Bitget-Manager: Warum eine breite Altcoin-Saison unwahrscheinlich erscheint

Vugar Usi Zade, operativer Leiter von Bitget, erklärte Cointelegraph auf der Token2049 in Singapur, dass eine weitreichende Altcoin-Rallye — also ein Szenario, in dem "alles steigt" — im aktuellen Zyklus eher unwahrscheinlich sei. Nach Einschätzung von Usi Zade haben viele Krypto-Projekte bislang nicht die technologischen Durchbrüche, die überzeugenden Produktveröffentlichungen oder die fesselnden Narrative geliefert, die früher Massen von Privatanlegern und Institutionen in Altcoins rotieren ließen.

Altseason-Erwartungen vs. Marktrealität

Mit Altcoin-Saison bezeichnet man üblicherweise Perioden, in denen Token außer Bitcoin (BTC) den Marktführer deutlich übertreffen, weil Trader höhere Risiko-Rendite-Chancen suchen. Usi Zade argumentiert jedoch, dass sich der Markt nicht mehr in langen, vorhersehbaren Saisons bewegt. „Ich denke nicht, dass es eine Altseason geben wird“, sagte er und fügte hinzu, dass ein gleichzeitiger Kurssprung über Hunderte oder Tausende von Tokens ohne logischen Katalysator schwer erklärbar wäre. Ohne greifbare Innovationen oder klaren Produktfortschritt fehlt der rationale Grund, warum Tokenpreise massenhaft steigen sollten.

Historisch betrachtet gab es mehrere Phasen, in denen Altcoins durch Technologie-Innovationen oder spekulative Euphorie starken Auftrieb erhielten — etwa das ICO-Jahr 2017, die DeFi-Explosion 2020–2021 oder jüngere Hypes um Layer-2-Ökosysteme und Memecoins. Diese Episoden waren jedoch oft durch klare Treiber gekennzeichnet: neue Protokolle mit realem Nutzen, große Nutzerwachstumsraten oder regulatorische Veränderungen, die die Einschätzung von Wertpapieren beeinflussten. Fehlen solche Treiber, wird der Markt fragmentierter.

Ein weiterer Unterschied zur Vergangenheit ist die zunehmende Reife und Fragmentierung des Ökosystems: statt eines einzigen breit geteilten Narrativs treten heute spezialisierte Anwendungsfälle hervor — RWA (Real-World Assets), ZK-Proofs, Gaming-Token oder AI-nahe Projekte. Diese Fokussierung reduziert die Wahrscheinlichkeit einer gleichzeitigen Rallye quer durch alle Sektoren.

Marktdynamik: Bitcoin-Dekopplung und fokussierte Narrative

Eines der stärksten Themen, das Usi Zade hervorhob, ist die zunehmende Unabhängigkeit von Bitcoin. „Bitcoin ist seine eigene Rallye; seine Wirkung auf den Rest des Marktes ist fast null“, sagte er und merkte an, dass BTC sich nicht nur von traditionellen Aktienmärkten entkoppelt habe, sondern inzwischen auch von den meisten Altcoins. Händler beobachten häufiger Phasen, in denen Bitcoin grün ist, während der Gesamtmarkt rot zeigt — ein Zeichen dafür, dass Kapital nicht mehr systematisch von BTC in Altcoins fließt, wie es in früheren Zyklen oft der Fall war.

Diese Dekopplung lässt sich mit mehreren Faktoren erklären: die zunehmende Etablierung von Bitcoin als „digitales Gold“ und Wertspeicher, die Einführung von Spot-Bitcoin-ETFs in einigen Jurisdiktionen, institutionelle Allokationen und spezifische Kapitalströme, die direkt in BTC gehen. Während institutionelle Investoren und einige Großanleger Bitcoin stärker bevorzugen, bleibt der Altcoin-Bereich kleinteiliger und stärker von Narrativen abhängig.

Narrativgetriebene Rallyes statt pauschaler Saisons

Statt breit angelegter Altcoin-Saisons prognostiziert Usi Zade kürzere, konzentriertere Rallyes, die an spezifische Storys geknüpft sind. Wenn zum Beispiel Real-World-Assets (RWA) zum dominierenden Thema werden, kann ein Korb an RWA-bezogenen Tokens steigen — doch diese Kursgewinne werden sich nicht zwangsläufig auf völlig unabhängige Sektoren übertragen. Solche narrative Mikrozyklen führen zu einer Fragmentierung, bei der einzelne Branchen oder Anwendungsfälle profitieren, während andere unverändert bleiben oder fallen.

Ein praktisches Beispiel: Wenn ein seriöses Projekt zur Tokenisierung von Immobilien erfolgreiche Partnerschaften, regulatorische Zulassungen und erste institutionelle Käufer vorweisen kann, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass genau diese Gruppe von Token-Anbietern profitiert. Gleichzeitig bleiben Sektoren ohne diese Untermauerung außen vor. Für Trader bedeutet das: Marktüberblick und frühe Identifikation von Narrativen sind wichtiger als breit gestreute Spekulation.

Außerdem verändern sich Market-Making- und Liquiditätsmuster. Institutionalisiertes Kapital tendiert heutzutage dazu, in Projekte mit klar messbaren Metriken zu fließen — TVL (Total Value Locked), aktive Nutzer, Transaktionsvolumen oder echte Geschäftsmodelle — statt in reine Bewährungs- oder Hype-Produkte. Daraus resultiert, dass Narrative mit nachweisbaren Kennzahlen größere Chancen auf anhaltende Kursanstiege haben.

Vugar Usi Zade speaking on stage at Taipei Blockchain Week in September

Strukturelle Hürden für nachhaltiges Token-Wachstum

Ein tiefer liegendes Problem ist nach Usi Zades Ansicht die Marktstruktur und die Erwartungshaltung vieler Investoren in Bezug auf Zeithorizonte. Krypto-Investoren operieren oft in kurzen Zyklen und erwarten schnelle Renditen. Usi Zade stellte dem die Sorgfalt konventioneller Technologieunternehmen entgegen: Amazon etwa brauchte mehr als ein Jahrzehnt, um profitabel zu werden. Kryptoprojekte hingegen stehen unter dem Druck, innerhalb weniger Monate Erfolge zu zeigen — eine Erwartung, die Gründer und Tokenökonomien stark belastet.

Diese Diskrepanz beeinflusst Entscheidungen auf mehreren Ebenen: Token-Emissionen werden frühzeitig aufgehäuft, Roadmaps werden auf kurzfristige Meilensteine getrimmt, und Marketing dominiert mitunter über Produktentwicklung. Langfristig belastet das die Nachhaltigkeit vieler Projekte, weil echte Netzwerkeffekte und Nutzerbindung Zeit benötigen. Ohne ausreichende Geduld oder langfristige Kapitalgeber riskieren viele Projekte, wichtige Entwicklungsphasen vorzeitig abbrechen zu müssen.

Hinzu kommen regulatorische Unsicherheiten: Je nachdem, wie Aufsichten Token, DeFi-Protokolle oder Custody-Dienste einstufen, können Projekte plötzlich vor erheblichem Anpassungsdruck stehen. Compliance-Kosten, Lizenzanforderungen und rechtliche Prüfungen verschärfen die Kapital- und Zeitprobleme, die viele Teams ohnehin haben.

Token-Verteilung und Marktgesundheit

Ein weiterer struktureller Punkt ist die Verteilung und Liquidität von Tokens. In klassischer Venture-Finanzierung verkaufen frühe Investoren häufig an institutionelle Investoren weiter, wodurch Unternehmen längere Runways erhalten. Im Krypto-Bereich werden Token dagegen oft früh in Umlauf gebracht und sind für Retail-Investoren handelbar. Usi Zade warnte davor, Token als separate Produkte zu behandeln: Wenn der Tokenpreis gegen Null geht, kann das zugrundeliegende Projekt faktisch tot sein, weil es extrem schwer ist, verlorenes Marktvertrauen wiederherzustellen.

Wichtige Aspekte hierbei sind Vesting-Schedules, Konzentrierung großer Token-Bestände bei wenigen Adressen, sowie der Einfluss zentralisierter Handelsplattformen auf die freie Float-Liquidität. Projekte mit gut konstruierten Tokenomics — etwa gestaffelte Vesting-Perioden, Buyback-Mechaniken oder Anreizsysteme für langfristige Halter — haben bessere Chancen, extreme Volatilität zu dämpfen. Dahingegen sind Projekte, deren Tokenverteilung hohe Verkaufsdruckpotenziale enthält, anfälliger für schnelle, irreversible Preisstürze.

Schließlich spielen auch Market-Making und On-Chain-Liquiditätspools eine Rolle. Ohne ausreichende Tiefe in Orderbüchern oder Liquiditätspools kann schon eine moderate Verkaufswelle große Preisbewegungen auslösen. Das wiederum schreckt langfristige Investoren ab und führt zu einem sich selbst verstärkenden Teufelskreis.

Portfolio-Rat: Bitcoin zuerst, Altcoins später

Angesichts dieser Dynamiken raten viele Marktteilnehmer neuen Anlegern inzwischen dazu, sich primär auf Bitcoin zu konzentrieren, statt das Kapital zwischen Bitcoin, Ethereum oder einer Vielzahl von Altcoins aufzuteilen. „Heute sagt einem niemand mehr ‚Bitcoin und Ethereum‘“, beobachtete Usi Zade. „Jeder wird dir nur Bitcoin empfehlen.“ Obwohl Ether in letzter Zeit eine gewisse Preisstabilität gezeigt hat, hat das anhaltende BTC-Rallye und neue Allzeithochs für viele Investoren die unmittelbare Motivation verringert, ETH zu kaufen.

Das Übergewicht von Bitcoin in Portfolios lässt sich mit seiner Rolle als Referenzwert erklären: geringe Inflation (durch begrenztes Angebot), breite institutionelle Akzeptanz, Liquidität und ein relativ transparentes makroökonomisches Narrative. Für konservativere Anleger kann eine stärkere Gewichtung in Bitcoin das Risiko reduzieren, während selektive Altcoin-Positionen als Satelliten dienen können.

Operational bedeutet das: Anleger, die weniger Zeit oder Ressourcen für kontinuierliche Projektanalyse haben, fahren mit einer BTC-zentrierten Allokation oft robuster. Engagierte Investoren mit Research-Kapazitäten können dagegen kleine, konzentrierte Wetten auf Narrative-gestützte Sektoren eingehen, jedoch mit strenger Risiko- und Positionsgrößenkontrolle.

Marktdominanz und Positionierung

Daten stützen die Verschiebung hin zu Bitcoin-zentrierten Allokationen. Die Dominanz von Bitcoin liegt derzeit nahe 58 %, nachdem sie in den letzten 12 Monaten ein Hoch von 65 % erreicht hatte; Ether legte im gleichen Zeitraum zu und kommt auf etwa 12 %, nachdem es zuvor mehrjährige Tiefstände verzeichnete. Diese Zahlen zeigen, dass sich die Kapitalverteilung um Hauptwerte konzentriert, auch wenn Dominanzraten schwanken.

Marktdominanz ist ein nützliches Aggregat, aber sie verbirgt auch Nuancen: Market-Cap-Anteile können durch kurzfristige Kursbewegungen verzerrt werden, während zugrunde liegende On-Chain-Indikatoren (z. B. aktive Adressen, Transaktionsgebühren, Staking-Raten) ein differenzierteres Bild vermitteln. Für Anleger ist es daher sinnvoll, Dominanzzahlen als Ausgangspunkt zu nutzen und sie mit Fundamentaldaten zu koppeln, um die Qualität einer Allokation besser einschätzen zu können.

Folgen für Trader, Entwickler und Investoren

Für Trader lautet die Quintessenz: Beobachte Narrative und Sektor-Momentum statt auf einen gleichzeitigen Anstieg des gesamten Altcoin-Universums zu hoffen. Kurzfristige Bewegungen werden zunehmend von spezifischen Themen bestimmt — wer früh narrative Wendepunkte erkennt, kann Chancen nutzen; wer breit streut, riskiert dagegen Mittel in weniger tragfähige Projekte zu binden.

Für Entwickler und Token-Teams ist die Botschaft klar: Priorisiere nachhaltige Produktentwicklung, transparente Roadmaps und langfristig ausgerichtete Tokenomics, die einen frühzeitigen Kollaps der Tokenverteilung verhindern. Starkes Product-Market-Fit, nachvollziehbare KPIs und robuste Governance sind zunehmend Differenzierungsfaktoren gegenüber reinen Marketing-getriebenen Initiativen.

Für Investoren empfiehlt Usi Zade vorsichtige Exponierung gegenüber Altcoins und eine Fokussierung auf Assets mit soliden Fundamentaldaten, echtem Nutzen oder einem messbaren Adoptionspfad. Bewertungsmetriken, die über reine Market-Cap-Angaben hinausgehen — aktive Nutzerzahlen, Volumen, Partnerschaften, On-Chain-Anziehungskraft und Entwickleraktivität — sollten in die Due-Diligence einfließen.

In einem Markt, der sich auf narrative-getriebene Rallyes und kürzere Zyklen zubewegt, können wahllose Wetten auf eine breite Altcoin-Saison riskant sein. Die bessere Vorgehensweise ist eine konzentrierte, forschungsbasierte Positionierung in Projekten, die technischen Fortschritt, nachweisliche Nutzung und robuste wirtschaftliche Anreizstrukturen zeigen. Kurzfristig kann das einen langsameren, aber stabileren Kapitalzuwachs ermöglichen — langfristig erhöht es die Chance, nachhaltigen Wert zu erzielen.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Zeiten, in denen ein breiter Altcoin-Boom automatisch eintrat, sind vorüber. Marktteilnehmer sollten ihre Strategien an die heutige Realität anpassen — mehr Fokus auf Narrativvalidierung, Tokenomics und Liquiditätsstruktur, weniger auf breite Spekulation. Wer diese Prinzipien beherzigt, ist besser positioniert, um von gezielten Sektor-Rallyes zu profitieren und gleichzeitig das Risiko gravierender Verluste zu begrenzen.

Quelle: cointelegraph

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