Lebererkrankung als Ursache fehldiagnostizierter Demenz

Neue Studien zeigen: Bis zu 13 % der in den USA als demenziell diagnostizierten Personen könnten kognitive Störungen aufgrund von Leberfunktionsstörungen haben — oft behandelbar und teilweise reversibel.

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Lebererkrankung als Ursache fehldiagnostizierter Demenz

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Mit der alternden Weltbevölkerung steigen die Diagnosen von Demenz, doch eine wachsende Forschungslage legt nahe, dass ein überraschender Anteil dieser Fälle eine andere Ursache haben könnte: die Leber. Neue Analysen weisen darauf hin, dass in den USA bis zu 13 % der als demenziell eingestuften Personen stattdessen eine kognitive Verschlechterung infolge von Leberfunktionsstörungen aufweisen könnten — eine Erkrankung, die in vielen Fällen zumindest teilweise reversibel ist. Diese Beobachtung hat weitreichende Folgen für Diagnostik, Behandlung und Versorgung von älteren Menschen mit kognitiven Symptomen.

How liver disease can mimic dementia

Hepatische Enzephalopathie (HE) ist der medizinische Begriff für kognitive Beeinträchtigungen, die durch Leberversagen oder schwere Leberfunktionsstörung entstehen. Wenn die Leber nicht mehr ausreichend Toxine filtert oder die Stoffwechselfunktionen reguliert, geraten Körperchemie und Homöostase aus dem Gleichgewicht; das wirkt sich auf viele Organe aus, besonders auf das Gehirn. Typische Symptome sind Gedächtnislücken, Verwirrtheit, Konzentrationsstörungen, motorische Probleme wie Tremor oder Sturzneigung sowie in manchen Fällen Halluzinationen und psychotische Erscheinungen. Für Kliniker, die diese Symptome bei älteren Patientinnen und Patienten sehen, kann das klinische Bild einer primären neurodegenerativen Demenz verblüffend ähneln.

HE ist bei fortgeschrittener Lebererkrankung häufig: Mehr als 40 % der Menschen mit Leberzirrhose entwickeln in ihrem Krankheitsverlauf eine Form von Enzephalopathie. Dabei reicht das Spektrum von subtilen, oft übersehenen Störungen der Aufmerksamkeit (sogenannte minimal HE) bis zur ausgeprägten, klar erkennbaren akuten Enzephalopathie. Trotzdem bleibt die Verbindung zwischen Lebergesundheit und Kognition in vielen Demenzambulanzen unentdeckt. Wie der Hepatologe Jasmohan Bajaj 2024 hervorhob, müssen Gesundheitsdienstleister die Überschneidungen zwischen Demenzsyndromen und behandelbarer hepatischer Enzephalopathie kennen und aktiv danach suchen.

The data behind the misdiagnosis concern

Forschungsteams, unter anderem an der Virginia Commonwealth University, werteten große Datenbanken mit elektronischen Patientenakten aus, um zu prüfen, wie häufig erkennbare Marker für Lebererkrankungen bei Menschen auftauchen, die in den Akten als demenzkrank geführt werden. In einer ersten Kohortenstudie mit 177.422 US-Veteranen, die zwischen 2009 und 2019 eine Demenzdiagnose erhielten, fanden die Forscher heraus, dass mehr als 10 % erhöhte FIB-4-Werte aufwiesen — ein routinemäßig verwendeter Index, der mittels Standardbluttests eine Schätzung der Leberfibrose (Narbenbildung) ermöglicht — obwohl in den Akten keine formelle Lebererkrankungsdiagnose dokumentiert war.

Der FIB-4-Index kombiniert Alter, AST-, ALT-Werte und Thrombozytenzahl zu einer numerischen Schätzung des Fibrosegrades. Er ist schnell, kostengünstig und gut etabliert in der Hepatologie als Screening-Instrument, besonders dort, wo weiterführende bildgebende Untersuchungen oder Leberbiopsien nicht ohne Weiteres verfügbar sind. Bei hohen FIB-4-Werten besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für fortgeschrittene Fibrose oder Zirrhose; bei niedrigen Werten ist schwerwiegende Fibrose eher unwahrscheinlich. Wie bei jedem Screening ist die Interpretation kontextabhängig und sollte klinisch abgesichert werden.

Um zu prüfen, ob sich dieses Muster über die Veteranenpopulation hinaus beobachten lässt, wiederholten die Wissenschaftler die Analyse in einer breiteren nationalen Stichprobe mit 68.807 Patienten. Das Ergebnis war auffällig: Fast 13 % der als demenzbetroffen registrierten Personen wiesen erhöhte FIB-4-Werte auf, was nahelegt, dass bei einem nicht unerheblichen Anteil Leberfibrose oder Zirrhose vorliegen könnte — und damit eine potenziell behandelbare Ursache für die kognitiven Symptome.

Bis zu 13 Prozent der in den USA mit Demenz diagnostizierten Menschen könnten fehldiagnostiziert sein. (Rido/Canva)

Why this matters: treatment and reversibility

Die wichtigste klinische Konsequenz ist, dass hepatische Enzephalopathie häufig behandelbar oder zumindest gut kontrollierbar ist, insbesondere wenn sie früh erkannt wird. Therapeutische Maßnahmen reichen von diätetischen Anpassungen (zum Beispiel angepasste Eiweißzufuhr und Vermeidung von Auslösern) über medikamentöse Therapie zur Reduktion von Blut-Ammoniak und anderen Toxinen (Laktulose, Rifaximin) bis hin zur gezielten Behandlung der zugrunde liegenden Lebererkrankung. Letzteres umfasst antivirale Therapien bei Hepatitis, strukturierte Entzugs- und Rehabilitationsprogramme bei alkoholbedingter Lebererkrankung, sowie Gewichtsreduktion und metabolisches Management bei nicht-alkoholischer Fettlebererkrankung (NAFLD) im Kontext von Adipositas, Typ-2-Diabetes und Dyslipidämie.

In Fallberichten und klinischer Praxis werden oft eindrückliche Besserungen beschrieben: Bei mindestens zwei Patientinnen bzw. Patienten, die zuvor als demenziell eingestuft worden waren, führte die Behandlung einer zuvor unerkannten hepatischen Enzephalopathie zur Auflösung von Gedächtnisverlust, Tremor, Stürzen und Halluzinationen — mit einer Wiederherstellung von Persönlichkeit und Alltagsfunktion, zur großen Erleichterung der Angehörigen. „Er ist ein anderer Mensch“, berichtete eine Ehepartnerin, nachdem die Symptome, die zuvor als fortschreitende Demenz abgeschrieben worden waren, reversibel geworden waren.

Leberzirrhose — das fortschreitende Ersetzen gesunden Lebergewebes durch Narbengewebe infolge chronischer Schädigung — erhöht das Risiko für Enzephalopathie, weil die Entgiftungs- und Stoffwechselfunktionen stärker beeinträchtigt sind. Zugleich deuten neuere Tierstudien darauf hin, dass altersbedingte Veränderungen der Leberfunktion bis zu einem gewissen Grad reversibel sein können, sofern frühzeitig interveniert wird; dies nährt die Hoffnung, dass sich durch verbesserte Lebergesundheit auch kognitive Vorteile erzielen lassen.

Zirrhose ist die Folge anhaltender Leberschädigung: Gesundes Lebergewebe wird allmählich durch Narbengewebe ersetzt. (Kuo Du et al., Nature Aging, 2024)

Health disparities and missed opportunities

Die Forschenden identifizierten in den Analysen auch demografische Muster: Ein größerer Anteil der Personen mit erhöhten FIB-4-Werten war nicht-weiß — ein Hinweis auf mögliche Versorgungsungleichheiten bei der Diagnostik und Behandlung sowohl von Leberkrankheiten als auch von Demenz. Die Autoren heben hervor, dass Barrieren für frühzeitiges Screening und Therapie — von begrenztem Zugang zu Fachärzten über infrastrukturelle Defizite bis zu sozioökonomischen Hindernissen — zur Erklärung eines ungleichen Anteils an unentdeckter leberbedingter kognitiver Beeinträchtigung beitragen können.

Da Leberfunktionsstörungen mehrere Organsysteme beeinflussen — Nieren, Pankreas, Herz und besonders das Gehirn — ist das Screening auf Lebererkrankungen bei Patientinnen und Patienten mit neuen oder untypischen kognitiven Beschwerden ein kostengünstiger Schritt mit potenziell hohem Nutzen. Bajaj und Kolleginnen betonen, dass die Integration einfacher, blutbasierter Indizes wie des FIB-4 in routinemäßige kognitive Assessments behandelbare Ursachen der Verschlechterung sichtbar machen kann. Ergänzend zum FIB-4 sind andere nicht-invasive Tests wie APRI, NAFLD-Fibrose-Score oder bildgebende Verfahren (transiente Elastographie) verfügbar; die Auswahl sollte leitliniengerecht und patientenorientiert erfolgen.

Frühe Erkennung ermöglicht neben gezielter medikamentöser Therapie auch Präventionsmaßnahmen: Impfungen gegen Hepatitis, strukturiertes Alkohol- und Substanzmodifizierungsmanagement, metabolische Risikofaktorkontrolle, Ernährungs- und Bewegungsprogramme sowie psychosoziale Unterstützung. Solche Maßnahmen können nicht nur die Lebergesundheit, sondern auch das allgemeine Gesundheits- und kognitive Outcome verbessern.

Expert Insight

„Wenn wir Gedächtnisverlust evaluieren, konzentrieren wir uns oft ausschließlich auf das Gehirn. Der Körper ist jedoch ein System — die Rolle der Leber bei der Entgiftung und der Stoffwechselbalance prägt die Kognition direkt“, erklärt Dr. Elena Vargas, klinische Neurologin und Spezialistin für kognitive Störungen. „Ein paar zusätzliche Fragen zu Leber-Risikofaktoren und die Anforderung einfacher Basis-Lebertests können die klinische Richtung ändern: von einer angenommenen irreversiblen Verschlechterung hin zu einer realistischen Chance auf Verbesserung.“

Ausblick: Eine breitere Sensibilisierung, verbesserte Screening-Protokolle und ein gerechter Zugang zur Lebermedizin könnten den Anteil fehldiagnostizierter Demenzen reduzieren und zugleich therapeutische Wege öffnen für Menschen, deren kognitive Symptome durch behandelbare systemische Erkrankungen gesteuert werden. Für Kliniker, Pflegende und Familien lautet die zentrale Botschaft: Über das Gehirn hinaus zu denken kann Kognition bewahren — und in vielen Fällen wiederherstellen.

Praktische Empfehlungen für die Versorgungspraxis umfassen:

  • Frühzeitige Erhebung von Leber-Risikofaktoren in der Anamnese (Alkoholgebrauch, virale Hepatitis-Exposition, metabolische Erkrankungen, Medikamente).
  • Einbindung einfacher Bluttests (AST, ALT, Thrombozyten, Bilirubin) zur Berechnung von Indizes wie FIB-4 oder APRI bei unklarer oder ungewöhnlicher kognitiver Symptomatik.
  • Multidisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Neurologie, Geriatrie und Hepatologie, insbesondere bei Patienten mit Risikofaktoren oder auffälligen Laborbefunden.
  • Niedrigschwellige Zugangswege zu weiterführender Leberdiagnostik (Elastographie, spezialisierte Labordiagnostik) und zu therapeutischen Interventionen.
  • Beachtung von sozialen Determinanten der Gesundheit und gezielte Maßnahmen zur Überwindung von Versorgungsbarrieren, besonders in benachteiligten Bevölkerungsgruppen.

Forschungsperspektiven: Längsschnittstudien, die kognitive Verläufe bei Menschen mit dokumentierter Lebererkrankung verfolgen, randomisierte Studien zur Wirkung hepatologischer Interventionen auf kognitive Endpunkte sowie Untersuchungen zur Pathophysiologie (Ammoniak, Entzündung, Störung der Blut-Hirn-Schranke) sind notwendig, um Mechanismen zu klären und Leitlinien zu informieren. Die aktuelle Evidenz legt jedoch nahe, dass Lebergesundheit ein wichtiger, bisher zu wenig beachteter Hebel im Management kognitiver Erkrankungen ist.

Zusammengefasst: Klinische Wachsamkeit für hepatische Ursachen kognitiver Störungen, die Nutzung einfacher Screening-Tools wie FIB-4 sowie rasches therapeutisches Handeln könnten einen substanziellen Beitrag dazu leisten, die Zahl der Fehldiagnosen zu reduzieren und die Lebensqualität vieler Betroffener zu verbessern.

Quelle: sciencealert

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