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Wenn wir auf einen Teller blicken oder in einer App durch Mahlzeitenfotos wischen, leistet unser Gehirn bereits die harte Arbeit. Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass visuelle Hinweise auf Lebensmittel schnelle neuronale Reaktionen auslösen, die mehrere Eigenschaften widerspiegeln — einschließlich wahrgenommener Gesundheit und Geschmack — lange bevor wir uns dessen bewusst werden.
Entscheidungen in unter 200 Millisekunden
Mithilfe von Neurobildgebung kombiniert mit empfindlichen maschinellen Lernverfahren fanden die Forschenden heraus, dass verschiedene Lebensmittelmerkmale vom Gehirn in etwa demselben kurzen Zeitfenster decodiert werden: circa 200 Millisekunden, nachdem eine Person ein Bild gesehen hat. Überraschenderweise traten Signale, die mit der Wahrnehmung von Gesundheitlichkeit zusammenhängen, sogar etwas früher auf als solche, die mit Geschmacklichkeit verbunden sind. Dieses Muster widerspricht einigen früheren Studien, doch das Team vermutet, dass fortgeschrittene Mustererkennungs‑Methoden subtile Aktivitätsmuster aufdecken können, die bei konventionellen Analysen übersehen werden.
Stellen Sie sich vor, Sie scrollen in einer Lebensmittel‑App — bevor Sie den Artikel benennen können, hat Ihr Gehirn ihn bereits als „natürlicher“ oder „verarbeiteter“ eingeordnet und eingeschätzt, ob er appetitlich wirkt. Solche automatischen Bewertungen können Entscheidungen im Gang oder auf dem Bildschirm beeinflussen, noch bevor überlegtes Denken einsetzt. Diese frühen, impliziten Einschätzungen sind Teil der schnellen Entscheidungsfindung und können subtile, aber kumulative Effekte auf Verbraucherverhalten und Essgewohnheiten haben.
Methodisch nutzte die Studie typischerweise hoch temporal aufgelöste Verfahren wie EEG oder MEG sowie multivariate Analysen (z. B. multivariate pattern analysis, Representational Similarity Analysis), um zeitlich fein abgestufte Aktivitätsmuster zu identifizieren. Durch die Kombination dieser Neurodaten mit maschinellem Lernen konnten die Forschenden nicht nur momentane Aktivierungsmuster erkennen, sondern auch vorhersagen, welche visuellen Merkmale — Farbe, Textur, Form, Komplexität der Darstellung — mit Bewertungen von Gesundheit oder Geschmack korrelieren. Diese technischen Details unterstreichen, wie sensible Analyseverfahren die Dynamik der Wahrnehmung von Lebensmitteln sichtbar machen.

Verwendete Lebensmittelstimuli in der Studie. (Chae et al., Appetite, 2025)
Zwei Kernachsen: verarbeitet vs. appetitlich
Durch die Untersuchung von Ähnlichkeiten zwischen Ratings identifizierten die Forschenden zwei Hauptdimensionen, die offenbar schnelle Lebensmittelbewertungen steuern. Die erste Achse beschreibt ein „Verarbeitet‑“Spektrum — also wie natürlich oder industriell ein Lebensmittel wirkt. Die zweite Achse lässt sich als „Appetit‑Achse“ bezeichnen und fasst Geschmacklichkeit und Vertrautheit zusammen. Lebensmittel, die als weniger vertraut eingeschätzt wurden, tendierten dazu, auch als weniger schmackhaft bewertet zu werden, wodurch diese beiden Wahrnehmungen in den frühen neuronalen Reaktionsmustern verknüpft erscheinen.
Beide Dimensionen spiegelten sich rasch in den neuronalen Signalen wider, was darauf hindeutet, dass das Gehirn breite evaluative Kategorien nahezu sofort kodiert. Diese schnelle Kodierung könnte dem Gehirn helfen, die Aufmerksamkeit zu priorisieren und Annäherungs‑ oder Vermeidungsreaktionen zu formen, wenn es mit vielen Optionen konfrontiert wird. In evolutionärer Perspektive wäre eine schnelle Einschätzung von „essbar/nicht essbar“ nützlich gewesen; moderne Bildstimuli aktivieren ähnliche Bewertungsmechanismen, die nun auf komplexe visuelle Informationen reagieren.
Die Identifikation dieser Achsen ist nicht nur methodisch relevant, sondern auch begrifflich: Indem man Begriffe wie „Verarbeitetheit“, „Naturnähe“, „Geschmack“ und „Vertrautheit“ klar voneinander trennt, lassen sich Beziehungen zwischen Wahrnehmungsdimensionen und Verhalten besser modellieren. Solche Konzepte sind zentral für Disziplinen wie Konsumentenpsychologie, Ernährungswissenschaft und Neuromarketing. Wenn man beispielsweise die neuronale Repräsentation von „Verarbeitetheit“ auflistet, lassen sich Hypothesen formulieren, wie Verpackungsdesign oder Bildästhetik diese Repräsentation verschieben könnten.
Zudem lieferten ergänzende Analysen Hinweise darauf, welche visuellen Eigenschaften besonders stark auf den jeweiligen Achsen laden: natürliche Texturen, matte Oberflächen und sichtbare Frische korrelierten tendenziell mit der „natürlichen“ Seite, während glänzende Beschichtungen, uniforme Formen und stark inszenierte Arrangements häufiger mit der „verarbeiteten“ Seite assoziiert wurden. Auf der Appetit‑Achse erhöhten vertraute Rezepte, warme Farben und kontrastreiche Lichtführung die wahrgenommene Geschmacklichkeit. Solche Befunde zeigen, wie visuelle Perzeptionsmerkmale direkt mit Attributen wie Gesundheit und Geschmack verknüpft sind.
Warum das für alltägliche Entscheidungen wichtig ist
Die Ergebnisse sind besonders relevant in rein visuellen Kontexten: Online‑Lebensmitteleinkauf, Durchblättern von Lieferdienst‑Apps, Speisekarten mit Bildern oder das schnelle Erfassen von Supermarktregalen. Wenn visuelle Hinweise schnelle, automatische Urteile über Gesundheitlichkeit und Geschmacklichkeit auslösen, können Designentscheidungen — angefangen bei Foto‑Winkel bis hin zur Beleuchtung — das Verbraucherverhalten auf vorhersehbare Weise beeinflussen. Die Auswahl bestimmter Bilder, Farbpaletten und Bildkompositionen kann so Konsumenten unbewusst in die eine oder andere Richtung lenken.
Solche Effekte haben sowohl kommerzielle als auch gesundheitsbezogene Implikationen. Aus Marketingsicht können Hersteller und Plattformen visuelle Strategien nutzen, um Produkte attraktiver erscheinen zu lassen. Aus Public‑Health‑Perspektive besteht die Möglichkeit, visuelle Interventionen zu entwickeln, die gesündere Optionen hervorheben: etwa durch Bildstil‑Guidelines, die frische, natürliche Merkmale betonen, oder durch visuelle Hervorhebungen bei gesünderen Produkten in Apps und Regalen.
Die Studie öffnet auch die Tür für gezielte Verhaltensinterventionen. Durch die bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit auf gesundheitsrelevante Merkmale (Labels, Bildsprache, Betonung natürlicher Zutaten) könnte man jene frühen neuronalen Einschätzungen verschieben und dadurch gesündere Entscheidungen unterstützen. Solche „visuellen Nudges“ wären kostengünstige Maßnahmen im Kontext von App‑Design und Handelspräsentation. Wichtig ist dabei die Evidenz‑basierung: Experimente in realen Kaufkontexten sind notwendig, um die Wirksamkeit solcher Interventionen zu bestätigen.
Die Autorinnen und Autoren weisen darauf hin, dass die vorliegende Studie statische Bilder nutzte, während reale Essensentscheidungen multisensorisch sind. Geruch, Geschmack und Geräusche liefern zusätzliche, sehr schnelle Signale: das Zischen eines Bratens oder der fruchtige Duft eines Desserts ergänzt die visuelle Bewertung und kann die Reihenfolge, Stärke oder Richtung der ersten 200 Millisekunden‑Signale verändern. Deshalb ist es plausibel, dass multisensorische Integration in natürlichen Umgebungen noch stärker beeinflusst, welche Lebensmittel wir wählen und wie wir sie bewerten.
Nächste Schritte in der Forschung zur Lebensmittelwahrnehmung
Folgeuntersuchungen sollten multisensorische Kontexte testen: Beschleunigen oder verändern Gerüche und Klänge die Reihenfolge der Signale für Gesundheitlichkeit und Geschmacklichkeit? Können gezielte Interventionen — visuelle Nudges, edukative Hinweise oder Anpassungen im App‑Design — diese ersten 200 Millisekunden so beeinflussen, dass bessere Ernährungsentscheidungen gefördert werden? Chae et al. (Appetite, 2025) schlagen vor, hoch‑temporal aufgelöste Gehirnbildgebung mit maschinellen Lernverfahren zu kombinieren, um diese Fragen zu beantworten.
Technisch gesehen könnten künftige Studien zusätzliche Methoden einsetzen: kontrollierte Geruchssprays synchronisiert mit Bildpräsentationen, binaurale Klänge zur Simulation von Kochgeräuschen, sowie Eye‑Tracking zur Bestimmung von Aufmerksamkeitsmustern. Längsschnitt‑ und Feldstudien wären nötig, um zu prüfen, ob kurzfristige Verschiebungen in frühen neuronalen Bewertungen auch langfristige Verhaltensänderungen und verbesserte Ernährungsgewohnheiten bewirken. Ebenso bieten Randomized Controlled Trials (RCTs) in Supermarkt‑ oder App‑Kontexten robuste Belege für die praktische Anwendbarkeit von Design‑Interventionen.
Wissenschaftlich interessant ist zudem die Frage nach individuellen Unterschieden: Wie variieren diese schnellen Bewertungsmuster nach Alter, kulturellem Hintergrund, Ernährungseinstellungen oder diätetischen Einschränkungen? Menschen mit höherer gesundheitlicher Motivation könnten z. B. verstärkte oder frühere Gesundheits‑Signale aufweisen. Andererseits könnten stark konditionierte Vorlieben (z. B. durch Kindheitserfahrungen) die Appetit‑Achse dominieren. Solche Moderatoren sollten systematisch untersucht werden, um Interventionen zielgruppenspezifisch zu optimieren.
Auf der Ebene der Datenanalyse bleibt die Integration multimodaler Datensätze (EEG/MEG + Eye‑Tracking + Verhaltensdaten) eine Herausforderung, aber auch eine Chance: Multimodale Machine‑Learning‑Modelle können komplexe Beziehungen zwischen visueller Wahrnehmung, neuronaler Dynamik und tatsächlichem Konsumverhalten modellieren. Solche Modelle könnten schließlich prädiktive Werkzeuge für Designer und Gesundheitsforscher liefern, um visuelle Präsentationen so zu gestalten, dass sie gesundheitsförderliche Entscheidungen erleichtern.
Kurz gesagt: Ihr Gehirn beginnt fast sofort zu entscheiden, was an Lebensmitteln relevant ist — und das Verständnis dieser Millisekunden‑Entscheidungen könnte uns helfen, Umgebungen zu gestalten, die gesündere Entscheidungen erleichtern. Die Kombination aus Neurobildgebung, Verhaltensforschung und angewandtem Design bietet hier ein vielversprechendes Feld für Wissenschaft, Politik und Praxis.
Quelle: sciencealert
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