Vorsichtiger Aufschwung der Nordatlantischen Glattwale

Der Nordatlantische Glattwal (Eubalaena glacialis) zeigt leichte Bestandszuwächse. Der Artikel erläutert Zahlen, Bedrohungen durch Schiffsverkehr und Fischereinetze sowie Schutzmaßnahmen und Forschungstechniken.

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Vorsichtiger Aufschwung der Nordatlantischen Glattwale

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Der Nordatlantische Glattwal (Eubalaena glacialis), eines der am stärksten gefährdeten großen Meeressäugetiere der Erde, zeigt Anzeichen einer vorsichtigen Erholung. Nach Jahrzehnten des Bestandsrückgangs weisen jüngste Erhebungen kleine, aber bedeutsame Zuwächse bei der Kälberproduktion und der geschätzten Gesamtpopulation aus — dennoch steht die Art weiterhin vor akuten Risiken durch Schiffsverkehr und Fischereiausrüstung. Diese Entwicklung ist relevant für Marinexperten, Naturschützer und Politikgestalter, denn sie verdeutlicht, wie empfindlich Populationen mit niedriger Reproduktionsrate auf menschliche Eingriffe reagieren können.

Eine bescheidene Erholung: was die Zahlen zeigen

Forschende, die die Art überwachen, berichteten, dass die Population im Jahr 2024 gegenüber 2023 um etwas mehr als 2 Prozent zunahm. Dieser Anstieg entspricht acht neu dokumentierten Kälbern und erhöht die geschätzte Gesamtzahl auf rund 384 Individuen. Es handelt sich um einen kleinen, aber bedeutsamen Aufwärtstrend, der in einen größeren Kontext passt: Seit 2020 ist die Population nach einem starken Rückgang in dem Jahrzehnt zuvor von etwa 25 Prozent um mehr als 7 Prozent angewachsen. Solche relativen Veränderungen sind wichtig, weil bei einer so kleinen Grundgesamtheit bereits wenige Geburten oder Verluste das Populationsgleichgewicht merklich beeinflussen können.

Die genannten Zahlen beruhen auf koordinierten Sichtungsprogrammen und Analysen von Organisationen wie dem North Atlantic Right Whale Consortium, der NOAA (National Oceanic and Atmospheric Administration) und dem New England Aquarium. Zur Schätzung der Bestandsgröße werden Methoden wie Foto-Identifikation, Mark‑Recapture-Analysen, Luft- und Schiffsbeobachtungen sowie passive akustische Überwachung kombiniert. Weil es sich um eine seltene und weit wandernde Art handelt, bleiben Populationsschätzungen mit Unsicherheiten behaftet — dennoch liefern konsistente, mehrjährige Datensätze eine aussagekräftige Grundlage, die Forschenden und Naturschützerinnen vorsichtigen Optimismus vermittelt.

Warum die Erholung fragil bleibt

Trotz des positiven Signals betonen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass wenig Raum für Selbstzufriedenheit besteht. Im laufenden Jahr wurden bislang zwar keine bestätigten Todesfälle von Glattwalen gemeldet, viele Tiere zeigen jedoch weiterhin Verletzungen, Narben durch Propellerkontakt oder einen schlechten Körperzustand. Die Fortpflanzungsraten liegen weiterhin unter historischen Referenzwerten, und angesichts der biologischen Eigenschaften der Art — späte Geschlechtsreife, niedrige jährliche Reproduktionsrate und lange Lebensdauer — benötigt eine robuste Erholung Jahrzehnte. Das bedeutet: Jeder einzelne Kalbgewinn zählt, und jedes vermiedene Todes- oder Verletzungsereignis verbessert die Überlebenschancen der Population substantiell.

Historisch wurden Glattwale beinahe ausgerottet, weil sie als die „richtigen“ Wale galten, die nach dem Abschuss an der Oberfläche trieben und so leichter geborgen werden konnten. Heute sind die Hauptbedrohungen überwiegend vom Menschen verursacht: Kollisionen mit Schiffen und das Verfangen in Fischereigerät sind die führenden Ursachen für Todesfälle und schwere Verletzungen. Untersuchungen und Berichte, unter anderem von der Umweltschutzorganisation Oceana, schätzen, dass jährlich in US- und kanadischen Gewässern etwa ein Viertel der Population in Fischereigerät verstrickt wird; rund 85 Prozent der bekannten Individuen haben mindestens einmal in ihrem Leben eine Verstrickung erlebt. Solche wiederholten Traumata beeinträchtigen nicht nur die Überlebensfähigkeit der betroffenen Tiere, sondern auch ihre Fortpflanzungsfähigkeit durch Energieverlust und Narbenbildung.

Ein Nordatlantischer Glattwal mit Propellernarben

Schutzinstrumente und ihre Grenzen

Wissenschaftlerinnen, Behörden und Fischereibehörden setzen eine Vielzahl von Maßnahmen ein, um die menschlichen Auswirkungen zu reduzieren. Saisonale Geschwindigkeitsbegrenzungen für Schiffe, dynamische Tempozonen und temporäre Verlangsamungsgebiete sollen das Risiko tödlicher Schiffskollisionen senken. Darüber hinaus testen Behörden und Forschungseinrichtungen seilfreie ("ropeless") Fangsysteme, die temporäre Schließung von Fanggebieten sowie verbesserte Kennzeichnungs‑ und Ortungstechnologien, um Verstrickungen zu verhindern oder schnell auf Sichtungsmeldungen reagieren zu können. Solche Innovationsmaßnahmen zielen darauf ab, die Zahl der Verstrickungen zu reduzieren, ohne die Existenzgrundlage von Fischereibetrieben vollständig zu unterminieren.

Allerdings stoßen diese Maßnahmen auf praktische, technologische und gesellschaftliche Herausforderungen. Die Detektion von Verstrickungen und die genaue Kartierung von Walvorkommen ist schwierig, denn sie setzt voraus, dass Beobachtende zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind und dass Tiere an der Oberfläche sichtbar sind. Zur Überwachung werden daher kombinierte Ansätze genutzt: bemannte Flugzeugflüge, Drohnenbeobachtungen, Schiffseinsätze, Foto‑Identifikationsdatenbanken, satellitengestützte Telemetrie und passive akustische Überwachung (PAM). Wie Philip Hamilton, leitender Wissenschaftler am Anderson Cabot Center des New England Aquarium, betont, müssen zwei Bedingungen zusammenkommen: Menschen müssen hinschauen, und Wale müssen dort präsent sein, wo sie gesehen werden können. Zudem sind Akzeptanz in den betroffenen Gemeinden, ausreichende Mittel für Durchsetzung und Monitoring sowie technologische Verbesserungen bei der Fischereiausrüstung entscheidend, um bewährte Schutzlösungen auf größere räumliche Skalen zu übertragen.

Warum das weit über die Art hinaus Bedeutung hat

Glattwale sind wichtige Indikatoren für den Zustand mariner Ökosysteme und ein Baustein im größeren Bild der Ozeangesundheit. Ihre Ernährung, insbesondere die Abhängigkeit von Kleinkrebsen wie Calanus finmarchicus in bestimmten Nahrungsgebieten, macht sie sensibel gegenüber Veränderungen in Meeresströmungen, Wassertemperaturen und der Verfügbarkeit von Beutetieren — Faktoren, die durch den Klimawandel beeinflusst werden. Die langsame Reproduktionsrate und die lange Lebensdauer der Glattwale bedeuten, dass Populationszuwächse mindestens über Jahrzehnte hinweg beobachtet werden müssen, um von einer stabilen Erholung sprechen zu können.

Jedes geborene Kalb erhöht die genetische und demografische Stabilität der Population, und jeder vermiedene Todesfall ist ein Gewinn für die langfristigen Überlebenschancen der Art. Die zuletzt beobachteten Zuwächse zeigen, dass gezielte Schutzmaßnahmen Wirkung entfalten können — doch Forscherinnen und Forscher betonen, dass Beharrlichkeit, politische Unterstützung und eine erweiterte Zusammenarbeit mit der Schifffahrtsbranche, Fischereigemeinschaften und lokalen Gemeinden darüber entscheiden werden, ob diese fragile Erholung nachhaltig ist. Zusätzlich erfordern künftige Managemententscheidungen adaptive Strategien, die auf aktuellen Sichtungsdaten, Prognosen zum Klima- und Nahrungsangebot sowie auf kontinuierlicher technologischer Weiterentwicklung basieren.

Schätzungen Oktober 2024

Quelle: sciencealert

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