MAL/AnWj: Neues Blutgruppensystem nach 50 Jahren entdeckt

Forscher identifizierten 2024 Mutationen im MAL-Gen als Ursache eines seltenen AnWj-negativen Blutphänotyps. Die Entdeckung definiert ein neues MAL-Blutgruppensystem mit wichtigen Implikationen für Bluttransfusionen und Labordiagnostik.

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MAL/AnWj: Neues Blutgruppensystem nach 50 Jahren entdeckt

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1972 bemerkten Kliniker etwas Merkwürdiges: Eine Blutprobe einer schwangeren Frau fehlte ein Oberflächenmolekül, das alle damals bekannten roten Blutkörperchen trugen. Mehr als fünf Jahrzehnte blieb dieses Fehlen ein ungelöstes Rätsel. Im Jahr 2024 spürte schließlich ein Forscherteam aus Großbritannien und Israel die Ursache nach und beschrieb ein zuvor unbekanntes menschliches Blutgruppensystem, das mit diesem fehlenden Marker verbunden ist. Der Fund fügt der lange bekannten Vielfalt von Blutgruppenantigenen einen weiteren, klinisch relevanten Baustein hinzu und zeigt, wie archivierte Proben, moderne Technologien und internationale Kooperation alte Fragen beantworten können.

Wie ein einzelnes fehlendes Molekül einen 50 Jahre alten Fall neu eröffnete

Wenn die meisten Menschen an "Blutgruppe" denken, kommen ihnen ABO und Rh in den Sinn. Tatsächlich tragen rote Blutkörperchen jedoch eine Vielzahl von Proteinen und Zuckerstrukturen auf ihrer Oberfläche, die als antigenetische Erkennungszeichen fungieren. Diese Antigene signalisieren dem Immunsystem, welche Zellen zum eigenen Organismus gehören und welche als fremd gelten — eine Unterscheidung, die bei Bluttransfusionen, Schwangerschaften und bestimmten Autoimmunerkrankungen entscheidend ist. Auf Ebene der Diagnostik erfolgen Tests häufig serologisch durch Agglutinationstests, Immunfixation oder moderne Durchflusszytometrie; für seltene Phänotypen kommen zunehmend molekulargenetische Verfahren hinzu.

Bei routinemäßigen Tests besitzen mehr als 99,9 % der Menschen ein Antigen, das als AnWj bekannt ist. Die Erythrozyten der Patientin von 1972 wiesen diesen Marker nicht auf, und über Jahre fragten sich Forscher, ob es sich um einen Laborfehler, eine vorübergehende Veränderung oder den Hinweis auf ein seltenes erbliches Merkmal handelte. Die Unsicherheit blieb, weil nur sehr wenige Proben mit dem gleichen Phänotyp bekannt waren und die dafür verantwortlichen Mechanismen schwer nachzuweisen sind. Solche anomalen Befunde stellen Blutbanken und Hämatologen vor logistische wie diagnostische Herausforderungen: Wie findet man kompatible Spender, welche Tests sind indiziert und wann ist molekulare Genotypisierung sinnvoll?

Von genetischer Spurensuche bis zur Benennung eines neuen Systems

Jahrzehnte voller Blutbankakten, Fallberichte und sorgfältiger Laborarbeit brachten schließlich den molekularen Täter ans Licht: Mutationen im MAL-Gen. Das MAL-Gen kodiert für ein kleines, membranassoziiertes Protein, das an der Stabilisierung von Zellmembranen und an zellulären Transportprozessen beteiligt ist. In der Zellbiologie ist MAL für seine Rolle in bestimmten Membranmicrodomänen bekannt; es beeinflusst Membranzusammensetzung, Vesikeltransport und die Verankerung anderer Membranproteine — Funktionen, die erklären, warum das Fehlen oder die Veränderung von MAL Einfluss auf die Darstellung eines Antigens wie AnWj haben kann.

Da das AnWj-Antigen auf diesem Protein lokalisiert ist, benannte das Team die neu definierte Klassifikation als das MAL-Blutgruppensystem. Die Benennung folgt der etablierten Praxis in der Transfusionsmedizin, bekannte Antigene nach ihrer molekularen Grundlage oder historischen Bezeichnungen zu sortieren, was die Kommunikation zwischen Laboren und klinischen Diensten erleichtert. Die Entdeckung wurde durch die Kombination mehrerer Methoden möglich: serologische Re-Tests alter Proben, moderne DNA-Sequenzierung (einschließlich gezielter Genanalyse), Proteinexpressionsexperimente und funktionelle Wiederherstellungsversuche in Zellkulturen.

Die Hämatologin Louise Tilley vom UK National Health Service, die einen Großteil der langjährigen Untersuchung leitete, nannte das Ergebnis "eine enorme Errungenschaft" und das Ergebnis jahrelanger gemeinsamer Anstrengungen, die die Versorgung seltener Patienten verbessern werden. Solche Langzeitrecherchen benötigen Zugriff auf archivierte Blutproben, vollständige Laborjournale und international austauschbare Referenzdatenbanken. Der Zellbiologe Tim Satchwell von der University of the West of England hob die praktische Schwierigkeit hervor: "MAL ist ein sehr kleines Protein mit einigen interessanten Eigenschaften, die seine Identifikation erschwerten und uns dazu zwangen, mehrere Untersuchungsansätze zu verfolgen, um genügend Beweise für die Etablierung dieses Blutgruppensystems zu sammeln." Diese vielschichtige Herangehensweise ist typisch für Entdeckungen, bei denen geringe Proteinmengen, ähnliche Strukturdomänen oder variable Antigendarbietung serologische Tests erschweren.

Wie die Forscher nachwiesen, dass das Gen verantwortlich ist

Um über bloße Korrelationen hinauszukommen, nutzte das Team funktionelle Genetik. Die Forschenden führten ein normales MAL-Gen in Blutstammzellen bzw. in Blutzellen ein, die AnWj-negativ waren, und beobachteten, dass diese Zellen danach das AnWj-Antigen zu exprimieren begannen. Dieses Wiederherstellungs-Experiment lieferte den entscheidenden Beweis dafür, dass MAL — und kein anderes unabhängiges Element — die Anwesenheit des AnWj-Antigens bestimmt. Solche Komplementationsexperimente sind in der Molekularbiologie der Goldstandard, um Kausalität zu demonstrieren: Gene werden substituiert, und wenn der Phänotyp reinstaurationifiziert wird, spricht das stark für eine direkte Verantwortlichkeit.

Methodisch kombinierten die Teams Genexpressionsanalysen, Proteinassays und hochauflösende Immunfluoreszenz, um nachzuweisen, dass das exogen eingebrachte MAL-Protein korrekt an die Membran gelangt und das Antigen trägt. Ergänzende Methoden wie Massenspektrometrie zur Identifikation posttranslationaler Modifikationen sowie die Nutzung von Lentiviren oder CRISPR-basierten Editierverfahren trugen dazu bei, die Funktionalität und Spezifität des Proteins hinsichtlich der Antigendarstellung zu belegen.

Alle in der Studie identifizierten Patienten mit dem AnWj-negativen Phänotyp teilten die gleiche MAL-Mutation, wenn beide Kopien des Gens betroffen waren. Interessanterweise fanden die Forscher zudem drei Personen, die AnWj nicht aufwiesen, ohne die Mutation zu tragen; dies deutet darauf hin, dass bestimmte Blutkrankheiten oder regulatorische Mechanismen die Antigenexpression unterdrücken können. Solche Phänomene können durch erworbene Geninaktivierung, epigenetische Modifikationen, somatische Mutationen in hämatopoetischen Vorläuferzellen oder durch transitorische Effekte bei bestimmten Erkrankungen erklärt werden. Für die klinische Praxis bedeutet dies, dass nicht jede AnWj-Negativität automatisch vererbt sein muss; eine molekulare Abklärung ist in kritischen Fällen ratsam.

Klinische Auswirkungen: Warum das für Transfusionen wichtig ist

Bluttransfusionen basieren auf der Übereinstimmung von Antigenen. Stimmen Profil von Spender und Empfänger nicht überein, können Antikörperreaktionen von milden Symptomen bis hin zu lebensbedrohlichen Zuständen reichen. Transfusionsreaktionen können schwere hämolytische Ereignisse auslösen und langfristige Komplikationen verursachen, darunter Organversagen oder Immunreaktionen, die die weitere Transfusionsversorgung erschweren. Neben unmittelbaren Risiken spielt die Sensibilisierung des Empfängers eine Rolle: Sobald das Immunsystem Antikörper gegen ein seltenes Antigen gebildet hat, wird die Suche nach kompatiblem Blut für Folgebehandlungen deutlich komplizierter.

Obwohl das MAL/AnWj-System nur einen winzigen Bruchteil aller Transfusionen betrifft — es ist extrem selten — ist die Identifizierung dennoch wichtig, weil historische Fälle zeigen, dass seltene Antigenmismatches gravierende Folgen haben können. Besonders relevant ist dies für patientengruppen, die wiederholt transfundiert werden müssen, wie z. B. Menschen mit Thalassämie, Sichelzellanämie oder bestimmten onkologischen Indikationen, sowie für Schwangere, bei denen Antikörper gegen fötale Antigene eine hämolytische Krankheit des Neugeborenen (HDFN) verursachen können. Jetzt, da die genetischen Marker, die dem AnWj-negativen Zustand zugrunde liegen, bekannt sind, können Labore testen, ob ein Patientenphänotyp vererbt oder durch Antigenunterdrückung verursacht ist. Diese Unterscheidung kann auf zugrunde liegende medizinische Zustände hinweisen und die Transfusionsstrategie für betroffene Personen lenken.

Für Blutbanken bedeutet die Entdeckung konkrete Änderungen: die Aufnahme des MAL/AnWj-Status in Referenzdatenbanken, Schulung des Labors für seltene Antigene, Entwicklung genetischer Routinetests zur Abklärung unklarer serologischer Befunde und gegebenenfalls die gezielte Suche nach Spendern mit passendem Phänotyp in nationalen oder internationalen Registern. Die Kosten-Nutzen-Abwägung ist dabei zentral: Breitscreening aller Spender wäre ineffizient, doch eine klar definierte Indikation zur genetischen Abklärung kann Versorgungsengpässe verhindern.

Was wir noch lernen müssen

Wesentliche Fragen bleiben offen. Warum tritt das AnWj-Antigen erst nach der Geburt auf? In anderen Blutgruppensystemen gibt es ebenfalls Entwicklungsregulationen: manche Antigene werden erst postnatal voll exprimiert, weil die Genregulation in embryonalen und adulten Erythropoesephasen unterschiedlich ist. Das legt nahe, dass auch bei MAL alters- oder differenzierungsabhängige Regulationsmechanismen eine Rolle spielen könnten. Verursacht die MAL-Mutation feinere physiologische Effekte, die über die bloße Änderung der Antigendarstellung hinausgehen? In der untersuchten Kohorte ließ sich keine konsistente Verbindung zu einer bestimmten Erkrankung oder anderen Zellabweichungen feststellen, doch die Fallzahl ist gering, da solche Phänotypen sehr selten sind.

Zukünftige Arbeiten werden die Populationsprävalenz untersuchen, die Mechanismen ergründen, die die Antigenexpression bei nicht-mutierten Patienten unterdrücken, sowie die besten Wege finden, MAL-Screening in die Abläufe von Blutbanken zu integrieren, ohne unnötige Testbelastungen zu erzeugen. Dazu gehören epidemiologische Studien in unterschiedlichen Bevölkerungen, größere Genotypisierungsprogramme in Blutspenderkohorten, funktionelle Studien an in-vitro entstandenen Erythrozyten aus induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSCs) sowie strukturelle Untersuchungen des MAL-Proteins und der exakten Peptidstelle, an der das AnWj-Antigen gebunden ist. Langfristig könnten Tiermodelle oder zelluläre Modelle helfen zu klären, ob MAL neben der Antigenerkennung noch andere physiologische Funktionen in Erythrozyten hat.

Expertinnen- und Experteneinschätzung

„Entdeckungen wie diese erinnern uns daran, dass die menschliche Biologie noch Überraschungen bereithält“, sagt Dr. Amelia Hart, eine fiktive, aber realistisch dargestellte Spezialistin für Transfusionsmedizin. „Für Blutbanken und Transfusionsdienste besteht die praktische Herausforderung darin, diejenigen zu identifizieren, die besondere Betreuung benötigen, passende Spenderkonzepte bereitzustellen und dies zugleich kosteneffektiv zu tun. Das Wissen um das verantwortliche Gen erlaubt die Entwicklung präziser Gentests, die eingesetzt werden können, wenn die Serologie keine eindeutigen Ergebnisse liefert.“

Für Patientinnen und Patienten, die aufgrund vererbter MAL-Mutationen AnWj-negativ sind, bietet genetische Diagnostik nun Klarheit: Vererbung gegenüber Unterdrückung, individuelle Transfusionsplanung und frühzeitige Hinweise auf mögliche Komplikationen. Genetische Befunde können zudem in Beratungsgesprächen zu erblichen Risiken genutzt werden und Familienmitglieder in die Suche nach passenden Spendern einbeziehen. Für Forschende zeigt die Entdeckung des MAL-Systems, wie sorgfältige Archivdaten, moderne molekulare Methoden und internationale Zusammenarbeit langjährige Rätsel lösen können. Die Übersetzung solcher Grundlagenforschung in klinische Routinen wird die Transfusionsmedizin präziser und sicherer machen, insbesondere für Patientinnen und Patienten mit seltenen Blutgruppenantigenen.

Quelle: sciencealert

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