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Ein rätselhaftes Schlangenfossil mit dem Namen Paradoxophidion bringt die Fragen zur Evolution moderner Schlangen erneut in den Fokus. Eine neue Untersuchung von Museumspräparaten legt nahe, dass dieses Fossil zu den frühesten Vertretern der Caenophidia gehören könnte — dennoch bleiben sowohl seine taxonomische Zuordnung als auch Hinweise auf seine Lebensweise unsicher und kontrovers diskutiert. Die Entdeckung und Neubewertung alter Sammlungsstücke zeigt, wie wichtig systematische Sammlungspflege, moderne Bildgebung und vergleichende Anatomie für das Verständnis der Evolution von Schlangen sind, insbesondere wenn nur fragmentarisches Material vorliegt.
Ein Fossil, das nicht eindeutig passt
Bei der Untersuchung von Paradoxophidion fallen Merkmale auf, die eine Verbindung zu den Acrochordidae nahelegen, einer Familie vollständig aquatischer Schlangen, die heute in tropischen Gewässern rund um Asien und Australien vorkommen. Forscher merken an, dass bestimmte Wirbelstrukturen und Oberflächenmorphologien mit aquatischen Lebensweisen kompatibel erscheinen. 'Wenn Paradoxophidion ein frühes Mitglied der Acrochordidae wäre, würde das eine aquatische Phase in der frühen Evolution der Caenophidia nahelegen', sagt Georgios, einer der Wissenschaftler, die an der Sammlung arbeiten. Gleichzeitig weist das Exemplar aber auch Merkmale auf, die eher mit anderen Zweigen der Caenophidia übereinstimmen könnten, weshalb das Forschungsteam bewusst vorsichtig mit einer festen Zuordnung umgeht.

Derzeit reichen die anatomischen Daten nicht aus, um eindeutig zu bestimmen, wie Paradoxophidion gelebt hat oder zu welcher Familie es definitiv gehört. Ein zentrales Problem in der Schlangenpaläontologie ist die Fragmentierung des Materials: Häufig sind nur isolierte Wirbel, Rippenfragmente oder Kieferteile erhalten. Solche Einzelknochen können mehrdeutig sein, weil viele morphologische Merkmale konvergent auftreten — also unabhängig in unterschiedlichen Linien ähnlich ausgebildet werden, wenn ähnliche ökologischen Anforderungen bestehen. Diese konvergente Evolution kann klassifikatorische Analysen in die Irre führen, insbesondere wenn eine phylogenetische Analyse auf wenigen, homologisierbaren Merkmalen beruht. Darüber hinaus beeinflussen Erhaltungszustand und diagenetische Veränderungen (die chemischen und physikalischen Veränderungen nach der Einbettung im Sediment) die Sichtbarkeit feiner anatomischer Details, die für eine sichere Zuordnung hilfreich wären.

In Museumsschubladen nach Antworten graben
Um das Bild der frühen Schlangenevolution zu schärfen, plant Georgios, seine Arbeit in den Sammlungen fossilführender Reptilien fortzuführen und alte Präparate mit modernen Methoden neu zu untersuchen. Er wird dabei auch Exemplare berücksichtigen, die bereits im 19. Jahrhundert von Richard Owen beschrieben wurden, zu denen unter anderem Wirbel des riesigen aquatischen Schlangenpaares Palaeophis gehören, das in England entdeckt wurde. Der Vergleich von Paradoxophidion mit besser dokumentierten aquatischen Formen wie Palaeophis sowie mit rezenten Acrochordidae kann gemeinsame Anpassungen an ein Leben im Wasser aufzeigen — etwa spezielle Proportionen und Strukturen der Wirbel, modifizierte Gelenkflächen (Zygapophysen), reduzierte oder veränderte Hypapophysen und Hinweise auf muskuläre Aufhängepunkte am Schädel.

Museen beherbergen zudem eine Vielzahl bislang wenig untersuchter Knochen mit ungewöhnlichen Morphologien, die in historischen Sammlungen schlummern. Viele dieser Stücke wurden früher entweder fragmentarisch katalogisiert oder gar als „indeterminierte Reptilienreste“ abgelegt. Solches Material kann neue taxonomische Einblicke erlauben: Einige der bislang unbeachteten Fragmente könnten zuvor unbekannte Taxa repräsentieren, Zwischenformen dokumentieren oder regionale Varianten anzeigen, die bislang in globalen phylogenetischen Analysen fehlen. Die gezielte Auswahl komplexer oder morphologisch auffälliger Stücke für moderne Analysen — einschließlich hochauflösender CT- und Mikro-CT-Scans, dreidimensionaler Oberflächenmodelle und quantitativer Geometrischer Morphometrie — ermöglicht es, subtile, aber phylogenetisch informative Merkmale herauszuarbeiten. Zusätzlich bieten histologische Untersuchungen von Knochenquerschnitten und Isotopenanalysen Aussagen zur Wachstumsdynamik, Physiologie und zu Umweltbedingungen, die beim Leben der Tiere geherrscht haben könnten.
Die Kombination aus klassischer vergleichender Anatomie und digitalen Methoden eröffnet die Chance, Paradoxophidion präziser auf dem Stammbaum der Schlangen einzuordnen. Dazu zählen auch umfassende phylogenetische Analysen, die sowohl morphologische Daten als auch, wo möglich, molekulare oder biochemische Signale aus gut erhaltenen Fossilien integrieren. Obwohl direkte molekulare Daten aus tertiären oder älteren Schlangenfossilien selten sind, lassen sich durch den Vergleich morphologischer Datensätze mit genetisch gut belegten rezenten Taxa robuste Hypothesen über Verwandtschaftsverhältnisse und die Rekonstruktion von Merkmalstransitionen entwickeln.
Wichtig ist außerdem die Berücksichtigung von Taphonomie und Paläoumwelt: Die sedimentären Kontexte, in denen die Fossilien gefunden wurden, liefern Hinweise auf Lebensräume (Flussdynamik, Marineinfluss, Brackwasser- oder Süßwasserbedingungen) und helfen dabei, zwischen sekundären Verlagerungen und ursprünglich aquatischen Lebensweisen zu unterscheiden. Beispielsweise können Begleitfaunen wie Fische, Krebstiere oder marine Mollusken, deren chemische Signaturen mit dem Knochenmaterial korrelieren, Aufschluss über den ursprünglichen Lebensraum geben. Eine akribische Dokumentation der Fundschichten in Kombination mit modernen geochemischen Methoden kann so zu einer fundierteren ökologischen Interpretation führen.
Schließlich ist die Breite der Stichprobe entscheidend: Nur eine ausreichend große, taxonomisch und zeitlich diversifizierte Probenauswahl erlaubt es, homoplasieverdächtige Merkmale von echten synapomorphen (gemeinsamen abstammungsbedingten) Charakteren zu trennen. Deshalb setzen Paläontologen zunehmend auf die Durchsicht ganzer Museumsbestände, auf internationale Kooperationen und Datenfreigabe, damit vergleichende Analysen nicht durch regionale Sammlungsbias verzerrt werden.
Es bleibt aber zu betonen, dass auch bei positiver Identifikation von Paradoxophidion als einst aquatisch lebende Form die Implikationen für die Evolution der Caenophidia sorgfältig abgewogen werden müssen. Eine aquatische Lebensweise in einer frühen Phase der Caenophidia würde zwar neue Hypothesen zur funktionellen und ökologischen Diversifikation dieser großen Schlangengruppe unterstützen, jedoch ist denkbar, dass aquatische Anpassungen mehrfach unabhängig aufgetreten sind. Entscheidend ist somit die Kombination aus morphologischer Detailarbeit, statistischer Absicherung von Merkmalshomologien und einer größeren Datengrundlage durch zusätzliche Funde.
Zusammengefasst offeriert Paradoxophidion eine seltene Gelegenheit: Das Fossil könnte entweder einen der ältesten bekannten Vertreter der Caenophidia darstellen oder ein Beispiel für eine kurzlebige, aber ökologisch bedeutsame aquatische Spezialisation sein. Beide Szenarien tragen wesentlich zum Verständnis der evolutionären Wege bei, die zur heutigen Vielfalt der Schlangen geführt haben. Zukünftige Arbeiten in Museumsbeständen, die Neubewertung historischer Materiale, der Einsatz moderner bildgebender und analytischer Werkzeuge sowie eine stärkere Vernetzung zwischen Institutionen werden entscheidend sein, um Paradoxophidion endgültig in die Schlangenevolutionsgeschichte einzuordnen und die frühen ökologischen Experimente innerhalb der Caenophidia besser nachzuvollziehen.
Quelle: scitechdaily
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