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Arbeiten von zu Hause hat sich vom vorübergehenden Pandemie-Notbehelf zu einem dauerhaften Merkmal moderner Arbeitswelten entwickelt. Doch was hat diese stille Revolution tatsächlich mit unserer psychischen Gesundheit gemacht, besonders in Ländern wie Australien, in denen lange Pendelstrecken und starre Bürokulturen früher die Norm waren? Die Auswirkungen auf Wohlbefinden, Stresslevel und Work-Life-Balance sind vielschichtig und lassen sich nur mit differenzierten Daten erschließen.
Eine groß angelegte, langjährige australische Studie liefert jetzt eine der bisher klarsten Antworten. Durch die Analyse von Erfahrungen von mehr als 16.000 Beschäftigten über zwei Jahrzehnte konnten Forschende herausarbeiten, wie Pendelzeiten und unterschiedliche Homeoffice-Regelungen das Wohlbefinden beeinflussen – und warum diese Effekte nicht für alle gleich sind. Die Studie trägt zur Forschung zu Homeoffice, Fernarbeit und psychischer Gesundheit bei und bietet wichtige Erkenntnisse für Personalpolitik und Arbeitsgestaltung.
Inside the 20-year study of remote work and wellbeing
Die Untersuchung basierte auf Daten der Household, Income and Labour Dynamics in Australia (HILDA) Survey, einer national repräsentativen Längsschnittstudie, die seit 2001 Tausende Haushalte begleitet. Weil dieselben Personen Jahr für Jahr befragt werden, lassen sich Veränderungen in den Arbeitsbedingungen direkt mit Verschiebungen der psychischen Gesundheit im Zeitverlauf verknüpfen. Das macht HILDA zu einer wichtigen Quelle für belastbare Aussagen über langfristige Trends in Bezug auf Arbeitsorganisation, Pendeln und mentale Gesundheit.
Für die vorliegende Analyse konzentrierte sich das Team auf mehr als 16.000 Erwerbstätige und untersuchte zwei zentrale Einflussgrößen: die Zeit, die sie mit dem Pendeln verbringen, und ob sie von zu Hause oder vor Ort arbeiteten. Um Verzerrungen durch die außergewöhnlichen Umstände der COVID-19-Pandemie zu vermeiden, wurden die Erhebungswellen 2020 und 2021 bewusst ausgeklammert. In diesen Jahren hätten Lockdowns, gesundheitliche Ängste und soziale Beschränkungen das Wohlbefinden auf eine Weise beeinflusst, die wenig mit der reinen Frage zu tun hat, an welchem Ort die Arbeit verrichtet wird.
Die Forschenden nutzten statistische Modelle, die darauf ausgelegt sind, größere Lebensereignisse herauszufiltern, welche das Gesamtbild verschleiern könnten – etwa Jobwechsel, Geburten oder markante Einkommensschocks. So ließen sich die Effekte von Pendelmustern und Homeoffice präziser isolieren und deren Zusammenhang mit gemessenen Werten zur psychischen Gesundheit besser bewerten. Solche Methoden reduzieren Störfaktoren und erhöhen die Aussagekraft der Ergebnisse im Kontext von Arbeitsgestaltung und Mitarbeitergesundheit.
Eine wesentliche Stärke der Studie war, dass mentale Gesundheit nicht als einheitliches Phänomen behandelt wurde. Stattdessen prüfte das Team, ob Menschen mit bereits beeinträchtigter psychischer Gesundheit empfindlicher auf Pendelzeiten und Homeoffice-Regelungen reagierten als jene, die von stabilerem Wohlbefinden berichteten. Diese differenzierte Betrachtung macht deutlich, dass Arbeitsbedingungen sehr unterschiedlich auf verschiedene Bevölkerungsgruppen wirken können.
Long commutes: a heavier burden for men with fragile mental health
Einer der klarsten Befunde betraf das Pendeln. Für Frauen zeigte sich, dass zusätzliche Zeit für die Fahrt zur Arbeit und zurück, nach Berücksichtigung anderer Faktoren, keine insgesamt messbare Auswirkung auf die mentale Gesundheit hatte. Für Männer hingegen spielte die Pendelzeit eine Rolle – jedoch auf sehr spezifische Weise und nicht für alle gleichermaßen.
Bei Männern, die bereits eine angespannte oder unterdurchschnittliche psychische Gesundheit aufwiesen, waren längere Pendelzeiten mit deutlich schlechterem Wohlbefinden verbunden. Der Effekt ist nicht riesig, aber er ist signifikant und praktisch relevant. Für einen Mann mit mentaler Gesundheit nahe dem Median der Bevölkerung hatte eine Verlängerung der einfachen Fahrt um nur 30 Minuten in etwa denselben negativen Effekt auf das gemeldete Wohlbefinden wie ein Rückgang des Haushaltsnettoeinkommens um rund 2%.
Das legt nahe, dass zusätzliche tägliche Belastungen durch Verkehr, Verspätungen und verlorene persönliche Zeit kumulativ wirken können, insbesondere wenn bereits psychische Ressourcen knapp sind. Für Männer scheint diese Belastung in den psychometrischen Messungen der Studie sichtbar zu werden, während dieselbe statistische Beziehung bei Frauen in diesem Datensatz nicht robust nachweisbar war. Solche geschlechtsspezifischen Unterschiede sind wichtig für gezielte Präventions- und Unterstützungsmaßnahmen.
Hybrid work gives women the biggest mental health lift
Das Bild verändert sich deutlich, wenn es um Arbeiten von zu Hause geht. Besonders markante Vorteile zeigten sich bei Frauen – vor allem bei jenen, die nicht ausschließlich vor Ort oder vollständig remote arbeiteten, sondern eine Mischung aus Homeoffice- und Bürozeiten praktizierten.
Die stärksten Verbesserungen des psychischen Wohlbefindens fanden sich bei Frauen, die den Großteil der Woche von zu Hause arbeiteten, aber etwa ein bis zwei Tage pro Woche ins Büro oder an den Arbeitsplatz kamen. Dieses hybride Arbeitsmodell, bei dem Remote-Arbeit den Standard bildet, persönliche Begegnungen aber erhalten bleiben, stand deutlich in Verbindung mit besserem Wohlbefinden. Hybridarbeit erwies sich als positiv für Work-Life-Balance, Stressreduktion und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.
Für Frauen mit bereits schlechterer mentaler Gesundheit war dieser Zugewinn substanziell. Der Zugewinn an psychischem Wohlbefinden durch den Wechsel zu einem solchen hybriden Arrangement war vergleichbar mit dem Wohlbefindensschub, den eine Erhöhung des Haushaltseinkommens um etwa 15% bringen könnte – ein beträchtlicher Unterschied in der Lebensqualität. Diese Größenordnung zeigt, dass Arbeitsort und -rhythmus messbare wirtschafts- und gesundheitspolitische Relevanz besitzen.
Die Ergebnisse stimmen mit früheren Studien überein, die zeigen, dass strukturierte Hybridmodelle sowohl die Arbeitszufriedenheit als auch die Produktivität steigern können. Die neue Analyse erweitert dieses Wissen, indem sie Hybridarbeit direkt mit psychischen Gesundheitsresultaten verknüpft und aufzeigt, dass die Vorteile besonders stark bei Frauen sind, die zuvor weniger gut zurechtkamen. Solche Differenzierungen sind für Personalstrategien und gesundheitsfördernde Maßnahmen zentral.

Wichtig ist: Die psychischen Gewinne für Frauen waren nicht allein durch verkürzte Pendelzeiten erklärbar. Weil Pendelzeit und Homeoffice-Status getrennt modelliert wurden, reflektiert der positive Effekt von Fernarbeit für Frauen zusätzliche Faktoren. Dazu zählen möglicherweise geringere Exposition gegenüber stressigen Aspekten des Arbeitsplatzes, mehr Kontrolle über das Arbeitsumfeld, oder größere Flexibilität, berufliche Aufgaben mit Familien- und Betreuungsverpflichtungen zu vereinbaren.
Gelegentliche oder sehr seltene Nutzung von Homeoffice – etwa nur gelegentlich von zu Hause zu arbeiten – zeigte keinen klaren Effekt auf die psychische Gesundheit von Frauen. Die Datenlage für Frauen, die dauerhaft vollständig im Homeoffice arbeiteten, war begrenzter; daher konnten die Forschenden keine eindeutigen Aussagen über die langfristigen psychischen Folgen von permanentem Remote-Arbeiten für Frauen treffen. Weitere Forschung ist hier nötig, um die langfristigen Vor- und Nachteile vollständiger Fernarbeit differenziert zu beurteilen.
Bei Männern hingegen ergab sich kein konsistentes Muster. Ob sie überwiegend im Büro tätig waren, gelegentlich von zu Hause arbeiteten oder häufiger remote tätig waren, die mentalen Effekte waren in dieser Analyse statistisch vernachlässigbar. Das bedeutet nicht, dass Homeoffice für Männer keinerlei Relevanz hat, wohl aber, dass die beobachteten Unterschiede in dieser Stichprobe weniger ausgeprägt waren als bei Frauen.
Why gender matters in remote work and mental health
Warum scheint Homeoffice Frauen deutlich mehr zu nützen als Männern, während längere Pendelzeiten Männer mit bereits schlechter psychischer Gesundheit stärker belasten als Frauen? Die Studie liefert keine abschließende Ursache, identifiziert jedoch plausible Erklärungsansätze im Zusammenhang mit Geschlechterrollen, sozialen Netzwerken und der Organisation unbezahlter Arbeit.
In vielen australischen Haushalten – wie auch in vielen anderen Ländern – übernehmen Frauen anteilig noch immer mehr Haushalts- und Betreuungsaufgaben, selbst wenn beide Partner erwerbstätig sind. Flexible oder hybride Arbeitsformen erleichtern es Frauen häufig, Schulwege, Arzttermine, Haushalt und Pflegeaufgaben zu koordinieren. Das kann chronischen Zeitdruck und Rollenkonflikte reduzieren, beides bekannte Risikofaktoren für Stress, Burnout und Angststörungen. Daher ist die Verbesserung der Work-Life-Balance durch hybrides Arbeiten für viele Frauen besonders bedeutsam.
Männer hingegen bauen im Durchschnitt stärker auf arbeitsbezogene Netzwerke für sozialen Kontakt und Unterstützung. Wenn dem so ist, kann Remote-Arbeit eine wichtige Quelle informeller Interaktion entfernen, ohne im Gegenzug denselben Ausgleich in Form von Flexibilität oder Entlastung zu bieten. Das könnte erklären, warum die psychische Gesundheit von Männern in dieser Untersuchung sensibler auf Pendeldauer reagierte als auf den Arbeitsort selbst.
Ein weiterer Faktor ist die individuelle Stressbewältigungskapazität. Menschen mit bereits eingeschränkter mentaler Gesundheit verfügen oft über weniger Reserven, um alltägliche Ärgernisse zu verarbeiten – sei es dichter Verkehr, verspätete Züge oder ein lautes Großraumbüro. In der Studie waren genau diese Personen am stärksten von langen Pendelstrecken betroffen und profitierten am deutlichsten von substantiellen Homeoffice-Regelungen. Das weist darauf hin, dass personalisierte Arbeitsmodelle und Gesundheitsmaßnahmen für besonders vulnerable Beschäftigtengruppen sinnvoll sind.
Expert Insight
Dr. Laura Bennett, Arbeitsökonomin mit Schwerpunkt Arbeit und Wohlbefinden, sagt, die Befunde spiegelten wider, was viele Klinikerinnen und Personalabteilungen informell beobachtet hätten.
„Die Wissenschaft holt auf, was Menschen in ihrem Alltag bereits gespürt haben“, erklärt sie. „Homeoffice ist weder grundsätzlich gut noch generell schlecht. Es interagiert mit Geschlechterrollen, der Vorgeschichte psychischer Erkrankungen und der Art, wie Haushalte Sorge- und Hausarbeit organisieren. Für viele Frauen, insbesondere jene mit multiplen Pflichten, kann Hybridarbeit tatsächlich transformativen Charakter haben. Für andere bleibt der Effekt begrenzt, wenn nicht gleichzeitig Arbeitsbelastung, Jobsicherheit und Unternehmenskultur adressiert werden.“
Sie weist ebenfalls darauf hin, dass die Effekte auf die psychische Gesundheit bedeutsam sind, selbst wenn sie in Zahlen relativ moderat erscheinen. „Wenn eine Veränderung der Pendelzeit denselben psychologischen Effekt hat wie eine Einkommensänderung, dann sollten wir Zeit und Arbeitsort als zentrale Elemente der Jobqualität ansehen – nicht nur als organisatorische Details.“ Diese Perspektive ist wichtig für betriebliches Gesundheitsmanagement und die Gestaltung nachhaltiger Arbeitsmodelle.
What workers and employers can do with this evidence
Die Ergebnisse der Studie haben klare Implikationen für die Gestaltung von Remote-Work-Policies und für die individuelle Arbeitsplanung. Sie liefern praktische Hinweise für Beschäftigte, Führungskräfte und Personalabteilungen, die psychische Gesundheit, Produktivität und Zufriedenheit verbessern wollen.
Für Beschäftigte lautet die Botschaft: Genau hinschauen und persönliche Muster berücksichtigen, statt auf eine einzige ideale Remote-Work-Formel zu hoffen. Wer bereits mit Angststörungen oder Depressionen kämpft, kann lange Pendelstrecken als besonders ermüdend erleben und von einer hybriden Vereinbarung profitieren, die an kritischen Tagen Reisezeiten reduziert. Ebenfalls hilfreich ist es, anspruchsvolle kognitive Aufgaben bewusst dort zu planen, wo man sich am konzentriertesten fühlt – sei es in der ruhigen häuslichen Umgebung oder in der strukturierten Atmosphäre des Büros.
Für Arbeitgeber spricht vieles gegen pauschale Rückkehrpflichten ins Büro. Besser sind flexible Rahmenwerke, die substanzielle Homeoffice-Optionen zulassen – insbesondere für Mitarbeitende mit bekannten psychischen Belastungen. Hybridmodelle mit regelmäßigen Bürozeiten können zugleich soziale Kohäsion und Wissensaustausch sichern und dabei die psychischen Vorteile bieten, die besonders bei Frauen beobachtet wurden. Solche flexiblen Regelungen können die Mitarbeiterbindung stärken und Fehlzeiten reduzieren.
Die Befunde legen außerdem nahe, dass Pendelzeit als realer Bestandteil der Arbeitsbelastung betrachtet werden sollte und nicht als unsichtbare Last, die allein von den Beschäftigten getragen wird. Bei der Diskussion um Arbeitszeitgestaltung, Kapazität und Leistungsziele sollten Führungskräfte berücksichtigen, wie weit und wie oft Mitarbeitende reisen müssen und wie sich das über die Zeit auf Stress, Ermüdung und Leistungsfähigkeit auswirkt.
Praktische Maßnahmen können sein: bedarfsorientierte Hybridmodelle, gezielte Unterstützung für Mitarbeitende mit psychischen Vorerkrankungen, Angebote für flexible Arbeitszeiten, sowie infrastrukturelle Anpassungen wie Co-Working-Flächen näher zu Wohngebieten oder Zuschüsse zu Fahrtkosten. Auch Schulungen für Führungskräfte in Bezug auf psychische Gesundheit und flexible Arbeitsgestaltung sind empfehlenswert.
Unterm Strich zeigt die Wissenschaft ein nuanciertes Bild: Remote-Arbeit ist weder Allheilmittel noch generelle Bedrohung für die psychische Gesundheit. Sie ist ein wirkungsvolles Instrument, das je nach Person, Lebenssituation und organisatorischer Flexibilität entlasten oder belasten kann. Die Herausforderung besteht darin, Arbeitsmodelle so zu gestalten, dass sie individuellen Bedürfnissen gerecht werden und gesundheitsfördernd wirken.
Quelle: theconversation
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