9 Minuten
Neue Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass eine überraschend große Zahl von Personen, die sich von COVID-19 erholt haben, nun mit vermindertem oder fehlendem Geruchssinn leben könnten — und viele wissen es nicht einmal. Objektive Tests zeigen anhaltende olfaktorische Defizite, die Patientinnen und Patienten häufig unterschätzen. Diese Befunde haben wichtige Folgen für die öffentliche Gesundheit, die Lebensqualität und die langfristige Betreuung von Betroffenen. Eine systematischere Erfassung von Riechstörungen und eine breitere Sensibilisierung in der Bevölkerung könnten dazu beitragen, Risiken zu vermindern und Behandlungswege zu öffnen.
Große Studie findet verborgenen Geruchsverlust nach COVID-19
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten untersuchten fast 3.600 Erwachsene, um langfristige Veränderungen des Geruchssinns nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 zu messen. Das Team führte standardisierte Riechtests an 2.956 Freiwilligen mit bestätigter COVID-19-Vorgeschichte und an 569 Personen ohne berichtete Infektion durch. Im Durchschnitt erfolgten die Tests rund 671 Tage — also fast zwei Jahre — nach dem ersten COVID-19-Test der Teilnehmenden. Die Stichprobe umfasste verschiedene Altersgruppen, Geschlechter und sozioökonomische Hintergründe; dadurch erhalten die Ergebnisse eine größere Relevanz für die Bewertung von Langzeitfolgen auf Bevölkerungsniveau. Die Forschenden sammelten neben den Riechtests auch Informationen zu Begleiterkrankungen, Rauchverhalten und Hospitalisierungen, um mögliche Einflussfaktoren zu berücksichtigen.
Die Resultate waren auffällig. Unter den Personen mit früherer COVID-19-Infektion gaben 1.393 Teilnehmende an, Geruchsprobleme bemerkt zu haben; objektive Tests bestätigten bei etwa 80 % dieser Fälle eine Beeinträchtigung. Noch besorgniserregender ist jedoch: Von den 1.563 Personen derselben Gruppe, die angaben, ihr Geruchssinn sei normal, hatten zwei Drittel (etwa 66 %) bei standardisierten Tests tatsächlich messbare Hyposmie (verminderter Geruchssinn) oder Anosmie (vollständiger Geruchsverlust). Diese Diskrepanz zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektivem Befund unterstreicht die Bedeutung wissenschaftlich validierter Messungen. Solche Ergebnisse deuten darauf hin, dass allein auf Selbstangaben gestützte Schätzungen die Prävalenz von Riechstörungen nach COVID-19 deutlich unterschätzen könnten.
„Unsere Ergebnisse bestätigen, dass Menschen mit einer COVID-19-Vorgeschichte besonders gefährdet sein könnten, einen geschwächten Geruchssinn zu entwickeln — ein Problem, das in der Allgemeinbevölkerung bisher häufig unterschätzt wird“, sagt Dr. Leora Horwitz von der New York University Grossman School of Medicine, eine Koautorin der veröffentlichten Studie. Die Forschenden betonen, dass diese anhaltenden olfaktorischen Veränderungen weitreichende Auswirkungen auf Alltag, Sicherheit und seelisches Wohlbefinden haben können und fordern eine bessere Integration von Riechtests in klinische Nachsorgeprogramme.

Warum viele Menschen den Geruchsverlust nicht bemerken
Die Studie testete auch die Kontrollgruppe — Personen, die angaben, nie an COVID-19 erkrankt gewesen zu sein — und fand, dass etwa 60 % dieser Gruppe ebenfalls eine gewisse Geruchsbeeinträchtigung aufwiesen. Diese Zahl liegt über den Erwartungen und spiegelt wahrscheinlich sowohl Unterberichterstattung als auch unerkannte oder asymptomatische Infektionen wider. Darüber hinaus können Infektionen sensorische Zellen und neuronale Bahnen in der Nase schädigen; manche Menschen passen sich allmählich an eine gedämpfte Geruchswelt an, ohne dies bewusst wahrzunehmen. Weitere Einflussfaktoren sind altersbedingte Veränderungen, allergische Rhinitiden, chronische Nasennebenhöhlenentzündungen, Umweltfaktoren wie Luftverschmutzung sowie Medikationen, die die Geruchswahrnehmung verändern können. Auch psychosoziale Anpassungsmechanismen spielen eine Rolle: Menschen gewöhnen sich an verringerte sensorische Reize und kompensieren diesen Verlust mit visuellen oder texturalen Hinweisen beim Essen.
Geruchssinn ist mehr als ein Luxus
Der Geruchssinn erfüllt wichtige Funktionen, die über Vergnügen und Erinnerungen hinausgehen. Er warnt vor Gefahren wie Gaslecks, verdorbenen Lebensmitteln und Rauch und steht in enger Verbindung mit Geschmack und Appetit. Ein eingeschränkter oder fehlender Geruchssinn kann zu Appetitverlust, Gewichtsveränderungen und sozialer Isolation führen und damit die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. In anderen Kontexten, etwa bei neurodegenerativen Erkrankungen wie der Alzheimer-Krankheit oder Parkinson, wurde ein Geruchsverlust wiederholt mit frühem kognitivem Abbau in Verbindung gebracht; solche Zusammenhänge legen nahe, dass olfaktorische Defizite Hinweise auf übergreifende neuronale Prozesse liefern können. Diese Beobachtungen werfen Fragen zu möglichen überlappenden Mechanismen und zu langfristigen Folgen für die Gehirngesundheit nach viralen Infektionen auf und begründen die Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung.
Der Einfluss von COVID-19 auf den Geruchssinn gehörte zu den früh sichtbaren Symptomen der Pandemie, wobei die Aufmerksamkeit zunächst vor allem auf akute Anosmie gerichtet war. Die vorliegende Studie verlagert den Fokus auf anhaltende, oft unerkannte olfaktorische Defizite, die Monate bis Jahre andauern können und die von Patientinnen und Patienten leicht unterschätzt werden. Solche langfristigen Riechstörungen sind ein zentraler Aspekt von Long COVID und verdienen deshalb erhöhte Aufmerksamkeit in Forschung, klinischer Versorgung und Gesundheitskommunikation.
Studienmethoden und praktische Auswirkungen
Die Forschenden verwendeten validierte olfaktorische Tests statt ausschließlich auf Selbstberichte zu bauen — ein entscheidender Unterschied: Frühere Umfragen hatten bereits Zusammenhänge zwischen COVID-19 und Geruchsverlust nahegelegt, doch objektive Tests liefern belastbarere Evidenz. Zu den üblichen Untersuchungsverfahren in der Riechforschung gehören beispielsweise Identifikations- und Schwellentests wie der University of Pennsylvania Smell Identification Test (UPSIT) oder die Sniffin’ Sticks, die Geruchserkennung, -unterscheidung und -schwelle messen. Solche Tests ermöglichen eine standardisierte Einordnung von Normwerten und erleichtern Vergleiche zwischen Studien. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Übertragung der Ergebnisse von der Stichprobe auf die globale Bevölkerung Grenzen hat; sollten sich die gezeigten Muster jedoch allgemein bestätigen, könnten weltweit Millionen Menschen mit vermindertem Geruchssinn leben, ohne es zu wissen.
Das hat konkrete Folgen für Alltag und Gesundheitssysteme. Ein gedämpfter Geruchssinn beeinflusst Ernährung, Sicherheit und psychisches Wohlbefinden: Betroffene nehmen Gerüche von Lebensmitteln nicht mehr richtig wahr, was zu Veränderungen beim Essen, Sättigungsgefühl oder Nährstoffaufnahme führen kann. Zudem besteht ein erhöhtes Risiko, Umweltwarnungen wie Rauch- oder Gasgeruch zu übersehen. Aus praktischer Sicht empfiehlt sich, einfache screeningbasierte Riechtests in Nachsorgeuntersuchungen zu integrieren, Gas- und CO-Melder in Privathaushalten zu verankern sowie Betroffene über alternative Sicherheitsmaßnahmen zu informieren. Die Autorinnen und Autoren der Studie sprechen sich außerdem für eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit aus, die HNO-Ärztinnen und -Ärzte, Neurologinnen und Neurologen, Ernährungsberaterinnen und -berater sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten einbindet.
Geruchsrezeptoren und Geschmacksknospen in Nase und Mund arbeiten zusammen, um Aroma, Geschmack und chemische Sinneseindrücke zu verarbeiten. Chemesthesie bezeichnet die Wahrnehmung chemischer Reize über Schmerz- und Tastneuronen — etwa das Brennen von Chili oder der kühlende Effekt von Menthol — und ist ein ergänzender Sinn, der bei Riechstörungen eine kompensatorische Rolle spielen kann. Das Verständnis dieser verschiedenen Sinnesmodalitäten ist wichtig für Diagnose, Beratung und Therapie von Riechverlusten. Beispielsweise kann eine gezielte Ernährungstherapie helfen, Mangelernährungen zu vermeiden, indem Texturen, Temperaturvariation und Gewürze eingesetzt werden, um den Appetit zu stimulieren.

Was die Forschung zum Gesamtbild beiträgt
Die im Fachjournal JAMA Network Open veröffentlichte Arbeit bestätigt frühere kleinere Studien und Umfragedaten, die auf unterschätzte, langfristige olfaktorische Dysfunktionen nach einer SARS-CoV-2-Infektion hinwiesen. Sie macht auch auf eine diagnostische Lücke aufmerksam: Viele Patientinnen und Patienten unterschätzen ihren eigenen Geruchsverlust, sodass routinemäßige Screenings Probleme aufdecken würden, die andernfalls unentdeckt blieben. Die Studie liefert damit wichtige Hinweise für klinische Leitlinien, Gesundheitsbehörden und die Planung von Versorgungsangeboten und legt nahe, dass Riechstörungen als fester Bestandteil von Post-COVID-Assessment-Protokollen berücksichtigt werden sollten.
Die Ursachen für unerkannte Geruchsverluste sind noch nicht vollständig geklärt. Möglich sind Schädigungen der peripheren olfaktorischen Rezeptoren, anhaltende Entzündungen im Nasengewebe, Veränderungen zentraler Hirnverarbeitungsprozesse oder kombinierte Mechanismen. In der Literatur wird diskutiert, dass Support-Zellen wie die sustentakulären Zellen, die ACE2-Expression aufweisen können, durch virale Entzündungsprozesse betroffen sind und dadurch sekundär die olfaktorischen Neurone beeinträchtigt werden. Andere Hypothesen betreffen neuroinflammatorische Prozesse oder gestörte neuronale Plastizität in olfaktorischen Zentren des Gehirns. Die Autorinnen und Autoren diskutieren auch die Möglichkeit, dass COVID-19-bedingte Veränderungen im Gehirn die subjektive Wahrnehmung sensorischer Einbußen abschwächen können, sodass Betroffene eine tatsächliche Beeinträchtigung nicht bewusst registrieren. Weitere bildgebende Studien, molekulare Analysen und Langzeitbeobachtungen sind notwendig, um diese Mechanismen zu differenzieren.
Expertinnen- und Experteneinschätzung
„Objektive Tests sind ein Weckruf“, sagt Dr. Ana Morales, klinische Neurologin und Forscherin im Bereich sensorischer Störungen. „Der Geruchssinn ist ein Wächter — er informiert über Sicherheit, Ernährung und emotionale Erinnerungen. Wenn Millionen Menschen nach COVID-19 einen reduzierten Geruchssinn haben, brauchen wir Screening-Programme und leicht zugängliche Rehabilitationsangebote wie Riechtraining, außerdem intensivere Forschung zu den neuronalen Mechanismen, damit Therapien zielgerichtet entwickelt werden können.“
Zu den praktischen nächsten Schritten gehören die breitere Einführung einfacher Riechtests in der Hausarztpraxis, longitudinale Studien zur Nachverfolgung von Erholungsverläufen sowie randomisierte Studien zu Interventionen, die Geruchsfunktionen nach viraler Schädigung wiederherstellen könnten. Konkrete Versorgungsmaßnahmen können die Implementierung standardisierter Screeningtools, die Einrichtung von Post-COVID-Clinics mit multimodaler Therapie sowie die Schulung von medizinischem Personal zur Erkennung und Dokumentation von Riechstörungen umfassen. Für Betroffene ist es sinnvoll, aufmerksam auf Veränderungen von Appetit, Genuss am Essen und die Wahrnehmung von Haushaltsgefahren zu achten; eine frühzeitige ärztliche Abklärung kann Risiken mindern und Rehabilitationswege eröffnen.
Darüber hinaus sollten gesundheitspolitische Strategien die Finanzierung von Rehabilitationsangeboten und die Erforschung therapeutischer Verfahren unterstützen. Bewährte Ansätze wie das Riechtraining — bei dem Betroffene regelmäßig an definierten Duftstoffen riechen, um neuronal gesteuerte Prozesse zur Wiedererlangung der Geruchsfunktion zu stimulieren — zeigen in Studien vielversprechende Effekte, benötigen jedoch größere randomisierte Studien zur Bestätigung der Wirksamkeit in unterschiedlichen Patientengruppen. Weitere mögliche therapeutische Ansätze reichen von entzündungshemmenden Behandlungen bis zu innovativen neuromodulatorischen Verfahren; ihre Bewertung erfordert sorgfältig konzipierte klinische Studien.
Quelle: sciencealert
Kommentar hinterlassen