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Eine umfassende retrospektive Analyse von Primärversorgungsdaten im Vereinigten Königreich zeigt, dass das weit verbreitete, kostengünstige Diabetesmedikament Metformin mit einem deutlich geringeren Risiko für Long COVID bei Erwachsenen mit Übergewicht oder Adipositas verbunden ist. Anhand anonymisierter Daten von mehr als 624.000 Patientinnen und Patienten und rund 1,8 Millionen Gesundheitsdatensätzen berichten die Forschenden von einer relativen Risikoreduktion für den Post‑COVID‑19‑Zustand (PCC) von 64 % bei Personen, die kurz nach einer SARS‑CoV‑2‑Infektion mit Metformin begannen (Intention‑to‑treat Hazard Ratio 0,36; 95 % CI 0,32–0,41). Der beobachtete absolute Risikounterschied über ein Jahr betrug etwa −12,58 %, was einer geschätzten Number Needed to Treat (NNT) von ungefähr acht entspricht, um einen Fall von Long COVID in dieser Population zu verhindern.
Hintergrund: Long COVID und warum erschwingliche Interventionen wichtig sind
Der Post‑COVID‑19‑Zustand (oft Long COVID genannt) beschreibt eine heterogene Gruppe von Symptomen, die Monate nach der akuten SARS‑CoV‑2‑Infektion anhalten können. Die Weltgesundheitsorganisation definiert PCC als Symptome, die mindestens zwei Monate andauern und in der Regel innerhalb von drei Monaten nach der Infektion beginnen. Weltweit sehen Gesundheitssysteme weiterhin erhebliche Morbidität durch anhaltende Fatigue, kognitive Dysfunktion ("brain fog"), Dyspnoe, Schlafstörungen und eine Vielzahl multisystemischer Beschwerden – zusammen wurden mehr als 200 verschiedene Symptomtypen beschrieben.
Die Identifizierung kostengünstiger, skalierbarer Interventionen hat für die öffentliche Gesundheit und die klinische Praxis Priorität, weil die zugrundeliegende Biologie von Long COVID noch nicht vollständig verstanden ist und therapeutische Optionen begrenzt sind. Frühere randomisierte Studien (zum Beispiel die COVID‑OUT‑Studie) deuteten darauf hin, dass Metformin die Inzidenz von PCC als sekundären Endpunkt bei Menschen mit Übergewicht oder Adipositas reduzieren könnte. Die vorliegende Studie überträgt diese Hinweise in eine Real‑World‑Umgebung unter Nutzung elektronischer Primärversorgungsdaten und fortgeschrittener Analysemethoden.
Studiendesign und analytischer Ansatz
Datenquelle und Kohortenauswahl
Die Analyse nutzte das UK Clinical Practice Research Datalink (CPRD) Aurum, eine Primärversorgungsdatenbank, die nahezu ein Viertel der Bevölkerung Englands abdeckt. Die Forschenden wählten Erwachsene (BMI ≥ 25 kg/m²) mit einer klinisch dokumentierten COVID‑19‑Diagnose zwischen März 2020 und Juli 2023 aus. Personen mit dokumentierter vorheriger Einnahme von Metformin oder anderen blutzuckersenkenden Medikamenten vor der Infektion oder mit Kontraindikationen für Metformin wurden ausgeschlossen, um Verzerrungen durch vorbestehende Medikamenteneinnahme zu minimieren.

Emulation von Studien in Beobachtungsdaten
Um randomisierte kontrollierte Studien nachzuahmen, wendeten die Forschenden einen sequenziellen Target‑Trial‑Emulations‑Rahmen mit drei gestaffelten Einstiegspunkten an (Diagnose, 30 Tage nach Diagnose und 60 Tage nach Diagnose). Sie verglichen das Ein‑Jahres‑Risiko (90–365 Tage nach Infektion) für klinisch validierte PCC‑Diagnosen oder neu dokumentierte WHO‑gelistete Symptome bei Patientinnen und Patienten, die innerhalb der definierten Zeitfenster Metformin begannen, mit denen, die das Medikament nicht einnahmen. Sowohl Intention‑to‑Treat‑ als auch Per‑Protokoll‑Analysen wurden durchgeführt; Subgruppenanalysen stratifizierten die Ergebnisse nach Alter, Geschlecht, BMI‑Kategorie und Diabetesstatus.
Ergebnisse und Robustheitsprüfungen
Von 624.308 geeigneten Erwachsenen begannen 2.976 Personen nach der Infektion mit Metformin. Die primäre Intention‑to‑Treat‑Analyse ergab eine Hazard Ratio von 0,36 (95 % CI 0,32–0,41), was einer relativen Risikoreduktion von 64 % für Long COVID bei Metformin‑Beginn entspricht. Die Per‑Protokoll‑Schätzungen waren konsistent (HR 0,36; 95 % CI 0,33–0,41). Der protektive Befund bestand in mehreren Subgruppen fort, einschließlich Zeiträumen, die von Delta‑ bzw. Omicron‑Varianten dominiert wurden. Eine Negative‑Control‑Analyse zur Untersuchung des Auftretens von Krebs zeigte keinen Schutzeffekt (HR 1,13), was die Spezifität der Assoziation unterstützt.
Diese Ergebnisse entsprechen einer absoluten Risikoreduktion von etwa 12,6 Prozentpunkten über ein Jahr und einer geschätzten NNT von rund acht behandelten übergewichtigen oder adipösen Erwachsenen, um einen Long‑COVID‑Fall zu verhindern. Die Autorinnen und Autoren betonen, dass es sich um ein beobachtendes Studiendesign handelt: Die Befunde zeigen eine starke Assoziation, können jedoch keine Kausalität belegen.
Biologischer Rationale und Einschränkungen
Metformin ist eine Erstlinientherapie für Typ‑2‑Diabetes und bekannt für seine blutzuckersenkende Wirkung. Über die glykämische Kontrolle hinaus wirkt Metformin antiinflammatorisch und aktiviert die AMP‑aktivierte Proteinkinase (AMPK), einen zellulären Energiesensor, der an der Stoffwechselregulation und antiviralen Reaktionen beteiligt ist. Laborbefunde legen nahe, dass die Aktivierung von AMPK die Dynamik viraler Replikation und nachgeschaltete Entzündungssignale verändern kann, was plausible Mechanismen für einen Schutz gegen PCC bietet. Dennoch sind die genauen Signalwege weiterhin Gegenstand der Forschung.
Wesentliche Einschränkungen umfassen potenzielle verbleibende Confounding‑Effekte, die inhärent für Beobachtungsstudien sind, mögliche Fehlklassifikationen von Long COVID in Routinedaten und eine eingeschränkte Übertragbarkeit auf normalgewichtige Personen — die Studienkohorte war auf BMI ≥ 25 kg/m² begrenzt. Die Autorinnen und Autoren fordern randomized controlled trials, um Kausalität zu prüfen sowie optimale Zeitpunkt, Dosierung und Patientenselektion für eine mögliche präventive Metformin‑Strategie zu definieren.
Expertinnen‑ und Experteneinschätzung
"Diese Ergebnisse sind bemerkenswert, weil sie aus umfassenden Real‑World‑Daten der Primärversorgung und nicht nur aus einer einzelnen Studienpopulation stammen", sagte Dr. Emilia Hartwell, klinische Epidemiologin und Infektionsforscherin (fiktiv). "Metformins pleiotrope Effekte — metabolisch, antiinflammatorisch und mögliche antivirale Aktivitäten — machen es zu einem logischen Kandidaten für Repositionierungsstudien. Klinikerinnen und Kliniker sollten die Praxis jedoch nicht allein auf Basis beobachtender Daten ändern; große randomisierte Studien sind der angemessene nächste Schritt, um Nutzen und Sicherheit für diese Indikation zu bestätigen."
Dr. Hartwell fügte hinzu, dass der öffentliche Gesundheitsnutzen erheblich wäre, falls randomisierte Studien diese Ergebnisse bestätigen, da Metformin preiswert, weit verbreitet und meist gut verträglich ist.
Folgen und nächste Schritte
Wenn nachfolgende randomisierte kontrollierte Studien diese Assoziationen bestätigen, könnte Metformin eine pragmatische präventive Option zur Verringerung der PCC‑Belastung bei Menschen mit Übergewicht oder Adipositas werden. Politik und klinische Praxis bräuchten dann Leitlinien zu Einschlusskriterien, Behandlungszeitpunkt in Relation zur Infektion und zur Überwachung von Nebenwirkungen. Parallel sollten Laborstudien weiterhin Mechanismen untersuchen — insbesondere AMPK‑vermittelte Signalwege und immunometabolische Modulation — um zu verstehen, wie Metformin den Verlauf von akuter Infektion zu chronischen Post‑Viral‑Syndromen beeinflussen könnte.
Fazit
Diese große retrospektive Kohortenstudie aus dem Vereinigten Königreich ergänzt die wachsende Evidenz, dass ein frühes Einsetzen von Metformin nach SARS‑CoV‑2‑Infektion mit einem deutlich geringeren Risiko für Long COVID bei Erwachsenen mit Übergewicht oder Adipositas verbunden ist. Obwohl die Assoziation in mehreren Analysen robust erscheint, können beobachtende Daten allein keine Kausalität nachweisen. Randomisierte kontrollierte Studien und mechanistische Forschung sind entscheidende nächste Schritte, um zu klären, ob Metformin als kosteneffiziente präventive Strategie gegen Post‑COVID‑19‑Zustände eingesetzt werden kann.
Quelle: news-medical
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