Neue Studie: Fluorid im Trinkwasser beeinträchtigt IQ nicht

Analyse einer groß angelegten US‑Studie: Keine Verbindung zwischen kommunaler Fluoridierung des Trinkwassers und vermindertem IQ bei Jugendlichen oder Erwachsenen bis 60. Kontext zu früheren Studien und politischen Folgen.

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Neue Studie: Fluorid im Trinkwasser beeinträchtigt IQ nicht

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Frische Erkenntnisse aus einem der größten US-amerikanischen Bildungs- und Gesundheitsdatensätze stellen eine verbreitete Behauptung in öffentlichen Debatten infrage: dass Fluorid im Trinkwasser das Gehirn schädige und den IQ senke. Eine neue, peer‑reviewte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass es keine Assoziation zwischen kommunaler Fluoridierung des Trinkwassers und reduzierter kognitiver Leistungsfähigkeit bei Jugendlichen oder bei Erwachsenen bis zum Alter von 60 Jahren gibt.

Was die neue Fluorid‑Studie wirklich fand

Die neue Untersuchung, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Science Advances, stützt sich auf Daten der langjährigen Studie „High School and Beyond“, einer landesweit repräsentativen Erhebung, die in den frühen 1980er‑Jahren begann. Mehr als 26.000 amerikanische Highschool‑Schülerinnen und -Schüler legten standardisierte Tests in Lesen, Mathematik und Wortschatz ab. Jahrzehnte später wurden Teilnehmende dieser Kohorte für ärztliche Untersuchungen erneut kontaktiert, die detaillierte kognitive Bewertungen im Erwachsenenalter einschlossen.

Der Erstautor John Robert Warren, Soziologe und Demograf am Minnesota Population Center der University of Minnesota, und seine Kolleginnen und Kollegen verknüpften diese individuellen Datensätze mit bundesweiten Angaben zu Fluoridierungswerten in den Gemeinden, in denen die Teilnehmenden zur Highschool gegangen waren. Da viele Menschen in den 1980er‑Jahren häufig dort wohnten, wo sie zur Schule gingen, nutzte das Team lokale Fluoridkonzentrationen als Proxy für die Kindheitsexposition.

Die Fragestellung war klar: Wenn Fluorid im Trinkwasser tatsächlich den IQ senkt, wie Kritikerinnen und Kritiker häufig behaupten, müssten Schülerinnen und Schüler, die in Regionen mit höheren Fluoridwerten aufwuchsen, in standardisierten Schultests konsequent schlechter abschneiden und später im Leben schlechtere Ergebnisse in kognitiven Tests zeigen. Laut Warren trat ein solches Muster nicht auf.

„Wenn Fluorid den IQ senkt, sollten wir in fluoridierten Gemeinden schlechtere Testergebnisse sehen – und das tun wir nicht“, erklärte Warren in einem Interview zur Studie. Stattdessen zeigten Schülerinnen und Schüler, die mit optimal fluoridiertem Wasser aufwuchsen, im Schnitt leicht höhere Testergebnisse in der Highschool, wobei dieser kleine Vorteil bis zum Alter von 60 Jahren verschwand. Entscheidender Befund: Es gab keine Hinweise auf langfristige kognitive Schäden.

Wie Forschende Fluorid und Kognition maßen

Die kommunale Fluoridierung von Trinkwasser bedeutet, die Fluoridkonzentration in öffentlichen Wasserversorgungen auf etwa 0,7 Milligramm pro Liter einzustellen – ein Wert, der als optimal zur Kariesprävention gilt und zugleich Nebenwirkungen minimieren soll. Fluorid ist ein natürlich vorkommendes Mineral; in einigen Regionen tritt es in höheren Konzentrationen im Grundwasser auf, in anderen wird es in kontrollierter Menge öffentlichen Systemen zugesetzt.

Um mögliche Neurotoxizität zu untersuchen, kombinierte Warrens Team mehrere unabhängige Datensätze:

  • High School and Beyond‑Kohorte – standardisierte Lese‑, Mathe‑ und Wortschatzwerte von mehr als 26.000 Highschool‑Schülerinnen und -Schülern landesweit sowie Nachuntersuchungen mit medizinischen und kognitiven Tests für einen Teil der Teilnehmenden bis ins hohe Erwachsenenalter.
  • Bundesweite Wasserqualitäts‑ und Fluoridierungsaufzeichnungen – gemeindeebene Messungen der Fluoridkonzentrationen in öffentlichen Trinkwassersystemen ab den frühen 1980er‑Jahren.
  • Demografische und sozioökonomische Daten – Informationen zu Ethnie, Geschlecht, elterlicher Bildung, Region und weiteren Variablen, die schulische Leistungen und Gehirngesundheit beeinflussen können.

Durch statistische Kontrolle dieser Einflussfaktoren prüften die Autorinnen und Autoren, ob höhere Fluoridwerte mit niedrigeren Testergebnissen in der Adoleszenz und im späteren Leben verknüpft sind. Zudem untersuchten sie, ob einzelne Gemeinden die vom U.S. Public Health Service empfohlenen Fluoridwerte überschritten, da dies das Risikoprofil verändern könnte.

Die Resultate blieben über verschiedene Modelle hinweg konsistent: Es fand sich kein Beleg dafür, dass die typischen Fluoridkonzentrationen in den USA mit schlechteren kognitiven Ergebnissen verbunden sind. Nur sehr wenige Gemeinden im Datensatz wiesen höhere als empfohlene Fluoridkonzentrationen auf, und auch in diesen Fällen zeigten die Daten nicht die in Anti‑Fluorid‑Kampagnen behaupteten IQ‑Defizite.

Warum frühere Fluorid‑IQ‑Studien Alarm auslösten

Sorge um Fluorid und Intelligenz kursiert seit Jahrzehnten in Aktivistenkreisen, erhielt jedoch neuen Auftrieb, nachdem mehrere wissenschaftliche Übersichtsarbeiten mögliche Zusammenhänge zwischen hoher Fluoridexposition und niedrigeren IQ‑Werten bei Kindern betonten. Ein prominentes Beispiel ist eine Übersichtsarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der National Institutes of Health (NIH), veröffentlicht Anfang 2024, die Zusammenhänge zwischen erhöhter Fluoridexposition und leicht verminderten IQ‑Werten bei Kindern in mehreren internationalen Studien berichtete.

Wichtig ist jedoch ein Detail, das in öffentlichen Diskussionen oft fehlt: Die Mehrzahl der in solchen Meta‑Analysen betrachteten Studien untersuchte Populationen mit deutlich höheren – teils toxischen – Fluoridkonzentrationen, die typischerweise aus natürlich kontaminiertem Grundwasser oder industrieller Verschmutzung stammen. Diese Bedingungen unterscheiden sich deutlich von den niedrigen, regulierten Werten in kommunalen Wassersystemen der USA.

In vielen dieser Studien lagen die Fluoridkonzentrationen im Trinkwasser bei 2–4 Milligramm pro Liter oder sogar höher, also mehrere Male über dem Wert von 0,7 Milligramm pro Liter, der in den USA für die kommunale Fluoridierung empfohlen wird. Langfristige Exposition gegenüber so hohen Werten kann zu dentaler Fluorose (sichtbare Veränderungen des Zahnschmelzes) und in extremen Fällen zu skelettaler Fluorose – einer Knochenkrankheit – führen. Es ist biologisch plausibel, dass sehr hohe chronische Fluoridbelastung auch die Gehirnentwicklung beeinträchtigen könnte. Diese Zustände sind jedoch weit entfernt von normalen Public‑Health‑Fluoridierungsprogrammen.

Warren und seine Co‑Autoren argumentieren, dass das Vermischen von toxischer Exposition und sorgfältig geregelter Fluoridierung Politikerinnen, Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit in die Irre führen kann. Ihre Studie schließt eine Lücke, indem sie gezielt US‑Gemeinden und Fluoridwerte untersucht, die für aktuelle Trinkwasserstandards und die zahnmedizinische Gesundheitspolitik relevant sind.

Fachliche Einschätzung

Dr. Melissa Grant, eine öffentlich tätige Zahnärztin und Forscherin im Bereich Public Health, die nicht an der Studie beteiligt war, bezeichnet die Ergebnisse als wichtigen Realitätscheck für die laufenden Debatten über Wassersicherheit und Neuroentwicklung.

„Dies ist eine der ersten groß angelegten, national repräsentativen Analysen, die reale Fluoridierungswerte mit langfristigen kognitiven Ergebnissen direkt verknüpft“, bemerkt Grant. „Wenn man die Größe und Diversität der Kohorte berücksichtigt und die Tatsache, dass das Team Menschen von der Adoleszenz bis in die 60er Jahre verfolgen konnte, ist das Ausbleiben eines Signals für Schaden bemerkenswert.“

Sie ergänzt, dass die neuen Ergebnisse in Relation zu jahrzehntelangen Daten zur Kariesprävention gewichtet werden sollten: „Die kommunale Fluoridierung bleibt eines der kosteneffektivsten Instrumente zur Reduktion von Zahnkaries, insbesondere bei Kindern, die möglicherweise keinen regelmäßigen Zugang zur zahnärztlichen Versorgung haben. Jede Forderung nach einem Ende der Fluoridierung sollte auf starken, konsistenten Belegen für Risiken bei typischen Expositionsniveaus basieren – und solche Belege sehen wir derzeit nicht.“

Fluorid, Verschwörungstheorien und politische Gegenreaktionen

Trotz eines wissenschaftlichen Konsenses, dass korrekt gesteuerte kommunale Fluoridierung sicher und effektiv für die Mundgesundheit ist, hat die Praxis immer wieder Kontroversen hervorgerufen. Aktivisten und einzelne politische Akteure machen Fluorid für ein breites Spektrum angeblicher Schäden verantwortlich, von unspezifischen neurologischen Schäden bis hin zu Krebs und hormonellen Störungen. Viele dieser Behauptungen sind durch strenge epidemiologische oder toxikologische Daten bei realistischen Expositionsniveaus nicht belegt.

Prominente Skeptikerinnen und Skeptiker haben die Fluorid‑Ängste in den letzten Jahren verstärkt. Robert F. Kennedy Jr., ein langjähriger Kritiker etablierter Public‑Health‑Maßnahmen, hat wiederholt behauptet, Fluorid verursache weit verbreiteten IQ‑Verlust und einen Anstieg von Knochenkrebs. In Medienauftritten und politischen Statements hat er Maßnahmen gefordert, die nationale Empfehlung für die kommunale Fluoridierung zu überdenken oder zurückzuziehen.

Gleichzeitig haben mehrere US‑Bundesstaaten und lokale Verwaltungseinheiten Schritte unternommen, die Fluoridierung einzuschränken oder ganz zu beenden. Im Jahr 2024 verabschiedeten Florida und Utah Gesetze, die die Praxis in bestimmten Regionen einschränken oder verbieten; ähnliche Initiativen werden andernorts diskutiert. Solche Entscheidungen werden oft als vorsorgliche Maßnahmen dargestellt und mit den IQ‑Befürchtungen begründet, die die Studie in Science Advances nun in Frage stellt.

Warren und seine Kolleginnen und Kollegen gehen zurückhaltend mit der politischen Verwendung ihrer Ergebnisse um, betonen jedoch eine zentrale Botschaft: Politik sollte sich an Evidenz orientieren, die die tatsächlich betroffenen Expositionsniveaus und Populationen widerspiegelt – nicht an Verallgemeinerungen aus Extremfällen oder unvollständigen Daten.

„Was wir zeigen, ist, dass die IQ‑These in einer repräsentativen US‑Stichprobe bei Fluoridkonzentrationen, die für aktuelle politische Debatten relevant sind, nicht standhält“, sagt Warren. „Wenn man aus anderen Gründen gegen Fluoridierung argumentieren will, ist das eine andere Diskussion. Aber die Behauptung, sie senke die Intelligenz von Kindern bei typischen Werten, wird durch unsere Daten nicht gestützt.“

Wie es mit der Fluorid‑Forschung weitergeht

Die neue Analyse konzentriert sich eng auf Kognition und kann daher nicht alle Fragestellungen zu Gesundheitsfolgen von Fluorid abschließend klären. Frühere Untersuchungen haben bereits die zahnmedizinischen Vorteile der Fluoridierung dokumentiert: deutlich geringere Kariesraten, weniger schwere Kariesverläufe und ein reduzierter Bedarf an invasiven zahnärztlichen Eingriffen, insbesondere in einkommensschwächeren Bevölkerungsgruppen.

Dennoch bleiben offene Fragen. Die kognitive Leistungsfähigkeit in der High School and Beyond‑Studie wurde mittels schulischer Tests und späterer kognitiver Testbatterien erfasst, nicht durch direkte IQ‑Messungen in der Kindheit. Vor diesem Hintergrund arbeitet Warrens Team aktuell an einem ergänzenden Projekt in Wisconsin, in dem sie tatsächliche IQ‑Testergebnisse mit historischen Fluorid‑Expositionsdaten verknüpfen können. Diese Folgestudie könnte die Schätzung eventuell subtiler neurokognitiver Effekte bei Standard‑Fluoridierungsniveaus weiter präzisieren.

Breiter gefasst untersuchen Forschende weiterhin, wie chronische, niedrig dosierte Exposition gegenüber verschiedenen Umweltschadstoffen – einschließlich Fluorid, Blei und anderer Spurenelemente – in Wechselwirkung mit Ernährung, Genetik und sozialen Faktoren die Gehirnentwicklung beeinflusst. Das entstehende Forschungsfeld der Umwelt‑Neuroepidemiologie zielt darauf ab, diese komplexen Einflüsse mithilfe großer Datensätze und zunehmend ausgefeilterer statistischer Methoden zu entwirren.

Für den Moment deutet das Gewicht der Evidenz darauf hin, dass Fluorid in den in kommunalen Wasserversorgungen der USA und vieler anderer Länder verwendeten Konzentrationen die menschliche Intelligenz nicht beeinträchtigt. Eher besteht das größere öffentliche Gesundheitsrisiko darin, dass politisch getriebene Entscheidungen auf Angst und Fehlinformation basieren und dadurch ein bewährtes Instrument zur Kariesprävention geschwächt oder abgeschafft wird, ohne dass dadurch ein messbarer Gewinn für die Gehirngesundheit erzielt würde.

Quelle: science

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