Superionischer Kern: Kristallines Eisen, Kohlenstoff fließt

Laborexperimente und Simulationen zeigen, dass der innere Kern superionisch sein könnte: kristallines Eisen mit fließendem Kohlenstoff. Das erklärt seismische Anomalien und hat Folgen für Geodynamo und Planetenmodelle.

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Superionischer Kern: Kristallines Eisen, Kohlenstoff fließt

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Neue Hochdruckexperimente deuten darauf hin, dass der innere Kern der Erde kein typischer Festkörper ist, sondern ein hybrides, superionisches Material: Eisen bleibt kristallin, während leichte Elemente wie Kohlenstoff durch das Gitter strömen wie eine Flüssigkeit. Dieses überraschende Verhalten bietet eine plausible und elegante Erklärung für seismische Anomalien, die Geowissenschaftler seit Jahrzehnten beschäftigen.

Der innere Kern der Erde könnte demnach weniger ein konventioneller fester Körper als vielmehr eine Art Mischzustand sein, in dem leichte Atome mit flüssigkeitsähnlicher Mobilität durchsitzen, während ein stabiles Eisengerüst die kristalline Ordnung bewahrt. Neue Experimente zeigen, dass dieser Zustand die mechanischen Eigenschaften des Kerns deutlich „weicher“ erscheinen lässt und damit seismische Beobachtungen erklärt, die mit traditionellen Modellen aus reinem Eisen oder einfachen Legierungen schwer vereinbar sind.

Ein anderer Festkörper: Was ist superionische Materie?

Im Alltagsverständnis sind Feststoffe starr und atomar unbeweglich. Superionische Materialien widerlegen diese Intuition: In einer superionischen Phase behält eine Untersublattice—typischerweise aus schweren Atomen wie Eisen bestehend—eine langreichweitige kristalline Ordnung, während leichtere Atome über Interstitien hinweg frei diffundieren und sich daher flüssig verhalten. Das Ergebnis ist ein einziger Stoff, der gleichzeitig feste und flüssigkeitsähnliche Eigenschaften zeigt.

Auf den inneren Kern angewandt bedeutet dies, dass ein hexagonal dichtgepacktes (hcp) Eisen-Gitter seine kristalline Struktur beibehält, während Kohlenstoffatome schnell zwischen Gitterplätzen diffundieren. Mechanisch gesehen hat das erhebliche Folgen: Die Schersteifigkeit nimmt ab, seismische Scherwellen verlangsamen sich, und die effektive Poisson-Zahl erhöht sich. Diese Kombination von Eigenschaften entspricht genau den Beobachtungen seismischer Netzwerke, die sich mit klassischen Eisen- oder Eisen-Legierungsmodellen bislang schwer taten.

Wichtig ist, dass superionische Zustände auf atomarer Ebene keine vollständige Auflösung der Kristallstruktur bedeuten. Stattdessen existieren zwei gekoppelte Transportmodi: ein starr bleibendes, tragendes Metallgitter und ein bewegliches System leichter Ionen, das für Selektivität in Leitfähigkeit, Diffusion und mechanischen Eigenschaften sorgt. Diese Dualität ist zentral, um Phänomene wie erhöhte Poisson-Zahlen und reduzierte Scherwellen-Geschwindigkeiten konsistent zu erklären.

Reproduktion von Kernbedingungen: Das Schockkompressionsexperiment

Ein Forscherteam unter Leitung von Prof. Youjun Zhang und Dr. Yuqian Huang (Sichuan University) sowie Prof. Yu He (Institute of Geochemistry, Chinese Academy of Sciences) setzte eine dynamische Schockkompressionsplattform ein, um Eisen–Kohlenstoff-Proben in den Druck- und Temperaturbereich des inneren Erdkerns zu bringen. Die Proben wurden auf etwa 7 Kilometer pro Sekunde beschleunigt, was Druckspitzen von nahe 140 Gigapascal und Temperaturen um 2600 Kelvin erzeugte—Bedingungen, die dem inneren Kern in seiner Makroskala vergleichbar sind.

Diese Methode erzeugt sehr kurze, transiente Zustände hoher Energie und ermöglicht dennoch gezielte Messungen in situ. Schockkompression ist eine von mehreren experimentellen Techniken (neben statischer Diamantstempelzellen und Laserheizung), die geeignet sind, Materialverhalten bei extremen Drücken und Temperaturen zu erforschen. Durch die Kombination moderner Diagnostik mit präparierten Eisen–Kohlenstoff-Proben lassen sich Rückschlüsse auf atomare Dynamik und makroskopische Elastizität ziehen.

Wie die Effekte gemessen wurden

Während die Proben den intensiven, kurzzeitigen Bedingungen unterworfen waren, kombinierte das Team in-situ-Messungen der Schallgeschwindigkeit mit molekulardynamischen Simulationen. Die experimentellen Daten zeigten einen ausgeprägten Abfall der Scherwellengeschwindigkeit (V_S) und einen sprunghaften Anstieg der Poisson-Zahl—genau die seismischen Kennzeichen, die in Untersuchungen der tiefen Erde beobachtet wurden. Ergänzend dazu zeigten atomistische Simulationen und statistische Analysen, dass Kohlenstoffatome eine flüssigkeitsähnliche Mobilität innerhalb eines intakten Eisen-Gitters aufweisen.

Die in-situ-Schallgeschwindigkeitsmessungen wurden mit optischen Methoden und Ultraschalltechniken realisiert, welche die Kompressionswelle und die daraus resultierenden elastischen Parameter erfassen. Parallel lieferten molekulardynamische Rechnungen (Molecular Dynamics, MD) detaillierte Einblicke in zeitabhängige Diffusionskoeffizienten, Aufenthaltszeiten in Interstitien und kollektive Bewegungsmuster der Eisen-Untergitter. Die Übereinstimmung von Messdaten und Simulation stärkt die Interpretation, dass eine superionische Phase realisiert wurde.

Eisenatome bilden eine starre hexagonal dichtgepackte (hcp) Struktur, wobei eine Teilmenge dieser Atome kollektive Bewegungen entlang der [100]- und [010]-Richtungen zeigt. Innerhalb dieses hcp-Eisengitters diffundieren interstitielle Leichtelemente frei und flüssigkeitsähnlich, während substitutionelle Leichtelemente an ihren Ersatzgitterplätzen verbleiben. Folglich existiert der innere Kern in einem Hybridzustand aus festem und flüssigkeitsähnlichem Verhalten. Credit: Huang et al.

Warum das für Seismologie und Geodynamo wichtig ist

Seismologen stellen seit langer Zeit fest, dass der innere Kern Scherwellen langsamer überträgt, als es für dichtes metallisches Eisen erwartet würde; außerdem zeigt er eine anomal hohe Poisson-Zahl—näher an weichen Metallen oder sogar an Polymeren als an hartem Stahl. Die superionische Erklärung deckt beide Beobachtungen ab: Die mobile Komponente (z. B. Kohlenstoff) reduziert die Schersteifigkeit, ohne die kristalline Ordnung des Eisens zu zerstören, sodass das mechanische Profil dem entspricht, das seismische Netzwerke messen.

Konkret bedeutet ein niedrigerer Scherwellen-Speed (V_S) einen geringeren Widerstand gegen Scherbeanspruchung im Material, während eine erhöhte Poisson-Zahl darauf hinweist, dass bei axialer Kompression ein relativ großer lateraler Ausdehnungsanteil auftritt. Beides lässt sich durch die Suspendierung leichter Atome im Eisen-Gitter erklären: Sie entkoppeln lokale Scherkräfte und ermöglichen plastische oder viskoelastische Entlastungswege auf atomarer Skala, die makroskopisch als verringerte Schersteifigkeit sichtbar werden.

Über die reine Seismologie hinaus könnten mobile leichte Elemente interne Prozesse antreiben oder modulieren. Die Diffusion von Kohlenstoff und anderen leichten Spezies trägt zur chemischen Durchmischung bei, beeinflusst die Anisotropie (richtungsabhängige seismische Geschwindigkeiten) und könnte zusätzliche Energiequellen für den Geodynamo liefern. Der Geodynamo—der Mechanismus, der das Magnetfeld der Erde erhält—benötigt Energie- und Stoffströme im Inneren; atomare Mobilität im inneren Kern stellt ein subtileres, aber potenziell relevantes Reservoir dar, das Modelle bislang kaum berücksichtigt haben.

Wenn z. B. interstitielle Diffusion gekoppelt mit Konvektions- oder Schleppprozessen im äußeren Kern wechselwirkt, entstehen neue Szenarien für die Energiebilanz des Dynamo-Prozesses. Diese Kopplung aus chemischer Diffusion, elastischer Relaxation und magnetohydrodynamischen Effekten könnte Schwankungen im Magnetfeld erklären oder zusätzliche Pfade für Wärmetransport darstellen, die sich in geodynamischen Modellen bislang nicht vollständig niedergeschlagen haben.

Breitere Folgen: Planeteninnenräume und Materialwissenschaft

Die Entdeckung verändert die Art und Weise, wie wir Planeteninnenräume modellieren. Wenn interstitielle Leichtelemente unter extremem Druck und hoher Temperatur superionische Phasen erzeugen können, könnte ähnliches Verhalten auch in anderen terrestrischen Planeten und großen Exoplaneten auftreten. Das hätte Konsequenzen für ihre thermische Entwicklung, das Vorhandensein und die Gestalt magnetischer Felder sowie für mögliche seismische Signaturen, die man mit fernerkundeten Methoden ableiten würde.

Für die Materialwissenschaft zeigen diese Experimente, wie sich Techniken für Extrembedingungen dazu eignen, unerwartete Materiezustände zu entdecken. Superionische Phasen kombinieren Transportprozesse—elektrisch, thermisch und chemisch—mit mechanischer Festigkeit und könnten neue Klassen von Hochdruckmaterialien mit gemischten Transporteigenschaften darstellen. Solche Materialien könnten in der Grundlagenforschung relevant sein, etwa für das Verständnis von Eigenschaftsübergängen bei hohen Drücken, aber auch langfristig für technologische Anwendungen, die extremen Bedingungen ausgesetzt sind.

Die experimentellen Ergebnisse verknüpfen Laborphysik, theoretische Modellierung und geophysikalische Beobachtungen zu einem konsistenten Bild. Indem man atomare Diffusion mit elastischen Messgrößen koppelt, lässt sich ein detailliertes Bild der Mikro-zu-Makro-Kopplungen gewinnen, das sowohl für Planetenphysik als auch für die Hochdruckforschung von unmittelbarem Interesse ist.

Expertinnen- und Experteneinschätzung

„Diese Arbeit liefert einen konkreten Mechanismus, um seismische Beobachtungen mit der Chemie des Kerns in Einklang zu bringen“, sagt die fiktive Planetenphysikerin Dr. Elena Morrison, die nicht an der Studie beteiligt war. „Die Vorstellung, dass Kohlenstoff sich wie eine schnell bewegliche Flüssigkeit verhalten kann, während Eisen kristallin bleibt, zwingt uns, die Dynamik des inneren Kerns neu zu denken—und magnetfeldbezogene Modelle zu überarbeiten, die bisher konservativere Annahmen trafen.“

Prof. Zhang fasste die Bedeutung prägnant zusammen: „Zum ersten Mal haben wir experimentell gezeigt, dass eine Eisen–Kohlenstoff-Legierung unter Bedingungen des inneren Kerns eine bemerkenswert niedrige Schergeschwindigkeit aufweist. Kohlenstoffatome werden hochmobil und diffundieren durch das kristalline Eisenrahmenwerk wie Figuren, die sich über ein Tanzparkett bewegen, während das Eisen selbst fest und geordnet bleibt.“

Aus technischer Sicht ist die Kombination aus Schockkompression, in-situ-Elastizitätsmessungen und atomistischen Simulationen besonders überzeugend. Sie erlaubt nicht nur die Beobachtung makroskopischer Effekte, sondern auch die direkte Verknüpfung mit atomaren Mechanismen—etwa Diffusionskoeffizienten, Aktivierungsenergien und kollektiven Moden im Gitter.

Als nächster Schritt planen die Forscher, andere leichte Elemente—Sauerstoff, Schwefel, Silizium—zu untersuchen und Mischchemien mit interstitiellen und substitutionellen Komponenten systematisch zu variieren. Solche Studien sind nötig, um zu bestimmen, welche kombinatorischen Zusammensetzungen superionische Zustände begünstigen und welche die beobachteten seismischen Signaturen am besten reproduzieren. Verbesserte seismische Inversionen, längere Hochdruckexperimente und verfeinerte Rechenmodelle werden erforderlich sein, um Zusammensetzung und Dynamik des inneren Kerns noch präziser zu kartieren.

Die Entdeckung superionischen Verhaltens im innersten Bereich der Erde ist mehr als ein spezialisiertes mineralogisches Ergebnis. Sie verbindet Laborphysik, Seismologie, Planetenmagnetismus und Materialwissenschaft und bietet eine einheitliche Erklärung für Anomalien, die über Jahrzehnte bestehen—und weist zugleich auf neue Forschungspfade zur Erforschung planetarer Innenräume hin.

Quelle: scitechdaily

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