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Uralte knochenfressende Würmer: Evolutionäre Überlebenskünstler der Ozeane
Seit mehr als 100 Millionen Jahren spielen außergewöhnliche knochenfressende Würmer, vor allem aus der Gattung Osedax, eine entscheidende, jedoch lange verborgene Rolle in marinen Ökosystemen. Anders als die meisten Aasfresser ernähren sich diese spezialisierten Meereswürmer von Fetten und Proteinen aus den Knochen verstorbener Meerestiere, die tief auf dem Meeresboden liegen. Neue Forschungen beleuchten den bemerkenswerten evolutionären Werdegang dieser Knochenfresser und verfolgen ihre Abstammung bis in die späte Kreidezeit – also lange bevor Wale als Wirte in Erscheinung traten.
Auf den Spuren der uralten Herkunft
Eine internationale Studie unter Leitung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des University College London (UCL) und des Natural History Museum in Großbritannien untersuchte mithilfe moderner Computertomographie (CT-Scanning) mehr als 130 Fossilfunde. Anstatt nach den fossilen Überresten der Würmer selbst zu suchen, spürte das Forschungsteam markante Spuren an den Knochen auf: mikroskopisch kleine Gänge und Bohrlöcher, die den Fraßspuren heutiger knochenfressender Würmer entsprechen. In sechs dieser Fossilien wurden eindeutig solche Fraßgänge gefunden, was zu einer bemerkenswerten Entdeckung führte.
Statt Walfossilien – der heutigen Hauptnahrung lebender Osedax – fanden die Wissenschaftler Hinweise auf knochenfressende Aktivität in den Überresten ausgestorbener Meeresreptilien wie Mosasauriern, Ichthyosauriern und Plesiosauriern. Diese beherrschten einst die Ozeane des Mesozoikums und besetzten ökologische Nischen, die später von Walen und anderen großen Meeressäugetieren übernommen wurden.
Paläontologin Sarah Jamison-Todd von der UCL erläutert: „Wir haben keine andere Quelle gefunden, die Fraßspuren in dieser charakteristischen Form hinterlässt. Da diese alten Spuren den heute bekannten Osedax-Bohrungen so ähneln und keine widersprüchlichen Fossilnachweise existieren, ist es plausibel, sie verwandten Organismen zuzuschreiben.“ Dieses Resultat weist darauf hin, dass knochenfressende Würmer eine äußerst stabile evolutionäre Linie bilden und über Millionen Jahre nahezu unverändert bestehen.

Neue Fossilfunde und evolutionäre Bedeutung
Das zerstörungsfreie CT-Scanning ermöglichte es dem Forschungsteam, Fossilien besonders detailreich zu analysieren. Dadurch wurden sieben neue „Ichnospezies“ – Arten, die auf Spurendfossilien beruhen – identifiziert. Interessanterweise ähnelten bestimmte Bohrmuster stark den Spuren moderner Arten. Diese evolutionäre Konstanz unterstreicht die Anpassungsfähigkeit und Beständigkeit der knochenfressenden Würmer in ihrer ökologischen Nische.
Um die Spuren zeitlich genau einordnen zu können, untersuchten die Fachleute Mikrofossilien, die in den Kreideschichten rund um die Knochen eingebettet waren. Diese winzigen Überreste urzeitlicher Lebensformen halfen, das Alter der Fossilien präzise zu bestimmen. Paläontologe Marc Jones vom Natural History Museum erklärt: „Anhand dieser Mikrofossilien konnten wir die Aktivität der Würmer exakt bestimmten Abschnitten der Kreidezeit zuordnen und ihre Ursprünge wesentlich weiter zurückverfolgen als bisher angenommen.“
Bedeutung für die Meerespaläobiologie und zukünftige Forschung
Die aktuellen Erkenntnisse zeigen, dass knochenfressende Würmer maßgeblich zur Nährstoffrückführung auf dem Meeresboden über riesige Zeiträume beigetragen haben. Ihre Fähigkeit, Kadaver großer Meerestiere zu verwerten, prägte die Entwicklung der Tiefsee-Ökosysteme und beeinflusste den Kohlenstoffkreislauf schon Millionen Jahre vor dem Erscheinen der heutigen Bartenwale.
Die Erforschung der knochenfressenden Würmer ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Es gibt zahlreiche bislang unbenannte oder nicht klassifizierte Fraßspuren – sowohl in fossilen wie auch heutigen Ozeanen. Mit weiterentwickelten, zerstörungsfreien Scantechnologien an Museumsobjekten und Untersuchungen zur genetischen Vielfalt lebender Osedax könnten noch viele weitere Entdeckungen gemacht werden. Wesentliche Fragen bleiben: Handelt es sich um dieselben Arten, die diese Spuren im Laufe der Erdgeschichte hinterlassen haben, oder entstanden sie durch konvergente Evolution bei unterschiedlichen Spezies als Antwort auf vergleichbare ökologische Möglichkeiten?
„Tatsächlich ähneln einige Bohrungen aus der Kreidezeit den heute vorkommenden Fraßspuren fast vollkommen“, betont Jamison-Todd und hebt die außergewöhnliche Stabilität und Anpassungsfähigkeit dieser ökologischen Strategie hervor. Weitere Forschung soll klären, wie diese geheimnisvollen Wirbellosen seit Abermillionen Jahren auf Veränderungen der Meeresfauna reagierten und selbst zur Umgestaltung beitrugen.

Fazit
Der Nachweis 100 Millionen Jahre alter knochenfressender Wurmspuren erweitert unser Verständnis der Evolution von Tiefseeökosystemen erheblich. Diese uralten „Recycling-Spezialisten“ zeichnen sich durch außergewöhnliche evolutionäre Beständigkeit aus und schlagen eine Brücke von der Ära der Meeresreptilien zur heutigen Zeit der Wale. Mit modernen Scanmethoden und paläogenetischer Forschung können Wissenschaftler das Rätsel dieser verborgenen, jedoch unentbehrlichen Bewohner der Ozeane weiter entschlüsseln – und damit sowohl unser Wissen über die Vergangenheit der Erde als auch neue Ansätze zum Schutz heutiger mariner Biodiversität bereichern.
Quelle: journals.plos
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