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Die Erzählung des litauischen Fintech-Ökosystems hat sich gewandelt. Es ist nicht mehr die Geschichte einer kämpferischen Start-up-Szene, die ihre Existenz beweisen muss, sondern eines ausgereiften Wirtschaftsmotors, der sich den komplexen Realitäten des Erwachsenwerdens stellt.
Dieser Wandel stand im Mittelpunkt des "Lithuanian Fintech Wrap-up of the year 2025", das heute bei ROCKIT von Greta Ranonytė, Leiterin des Fintech Hub LT, präsentiert wurde. Vor einem vollen Raum aus Branchenführern, Aufsichtsbehörden und Innovatoren legte Ranonytė den umfassendsten Datensatz des Jahres vor und zeichnete das Bild eines Sektors, der inzwischen eine tragende Säule der nationalen Wirtschaft ist und sich zugleich auf bedeutende strukturelle Veränderungen im Jahr 2026 vorbereitet.
Makro-Effekt: Ein Vermögenswert von €3,6 Milliarden
Ranonytė begann mit einer grundlegenden Frage, die Skeptiker häufig stellen: Wie messen wir den tatsächlichen Wert von Fintech-Unternehmen, die aus Litauen operieren, aber global agieren?
Unter Berufung auf aktuelle Daten von Eurostat fiel das Urteil eindeutig aus. Der vom Sektor geschaffene Mehrwert für die litauische Volkswirtschaft erreichte 2024 €3,6 Milliarden. „Man kann erkennen, dass das exponentielle Wachstum genau dann einsetzte, als Fintechs Teil des Ökosystems wurden“, erläuterte Ranonytė unter Verweis auf eine zehnjährige Trendlinie, die mit dem Aufstieg des Sektors stark ansteigt.
Die Auswirkungen gehen jedoch über das BIP hinaus; sie haben den Arbeitsmarkt grundlegend verändert. In den letzten zehn Jahren stieg die Zahl der Beschäftigten im Bereich Finanzdienstleistungen und Versicherungen in Litauen um beeindruckende 40%. Zum Vergleich: der EU-Durchschnitt in diesem Sektor liegt bei lediglich 1%.
„Was Litauen auszeichnet, ist der Ort, an dem diese Menschen arbeiten“, erklärte Ranonytė. „Im Gegensatz zum EU-Durchschnitt, wo Talente in großen etablierten Konzernen gebündelt sind, wird unser Wachstum von kleinen und mittleren Fintech-Unternehmen getragen.“

Die Steuerwirklichkeit und der „Binance-Effekt“
Die finanziellen Beiträge des Sektors erreichten Rekordhöhen. Daten von Okredo zeigen, dass Fintechs allein in den ersten drei Quartalen 2025 €232 Millionen an Steuern zahlten — ein Betrag, der nahezu dem gesamten Steueraufkommen für das Jahr 2024 entspricht.
Dennoch gab Ranonytė eine offene Warnung zur Interpretation dieser Zahlen für die Zukunft. Sie machte deutlich, dass der zweitgrößte Steuerzahler in dem Sektor weiterhin DFINITY (Binance) ist.
„Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Steuerzahl nächstes Jahr niedriger sein wird, wenn ich wieder hier stehe“, räumte sie ein. Mit dem Ende der Übergangsfrist für die MiCA (Markets in Crypto-Assets)-Regulierung in diesem Jahr könnten sich die Aktivitäten großer Kryptoakteure verschieben und die fiskalischen Kennzahlen für 2026 beeinträchtigen.
Sektor-für-Sektor: Detaillierte Analyse
Bei der Aufschlüsselung des Ökosystems lieferte Ranonytė einen detaillierten Blick auf die Lage verschiedener Vertikalen:
1. Spezialbanken: Auf dem Vormarsch Der Sektor umfasst inzwischen sieben Spezialbanken; kürzlich wurde eine neue Lizenz an die Rato Credit Union vergeben. Diese Institute sind längst keine Nischenakteure mehr; ihre Gesamtaktiva haben €1,5 Milliarden überschritten und verzeichnen damit ein massives Wachstum von 50% im Vergleich zum zweiten Quartal des Vorjahres.
2. Zahlungen & EMIs: Volumen statt Quantität Elektronische Geldinstitute (EMIs) und Zahlungsdienstleister verarbeiteten in den letzten zwölf Monaten Transaktionen im Wert von €161 Milliarden (ein Anstieg um 23%). Ranonytė wies jedoch auf eine Verschiebung in der Marktstruktur hin: „Wir sehen qualitatives Wachstum. Die Anzahl der Lizenzen wächst nicht, sie sinkt sogar. Aber Volumen und Produktvielfalt nehmen zu.“ Sie betonte, dass dieses beachtliche Transaktionsvolumen verstärkte Aufmerksamkeit der Behörden in Bezug auf Betrugsprävention und Anti-Geldwäsche (AML) nach sich ziehe — Themen, die der Verband „sehr vernünftig“ und ernsthaft angehe.

3. Kreditvergabe: Tradition überholt Vielleicht die markanteste Zahl stammte aus dem Bereich Peer-to-Peer (P2P)-Kreditvergabe. Diese Plattformen verfügen inzwischen über das größte Konsumentenkredit-Portfolio außerhalb der Banken im Land und haben damit traditionelle Konsumkreditgeber überholt. „Sie zeigen ein schnelles Wachstum — 32% bei den finanzierten Beträgen“, sagte Ranonytė und fügte hinzu, dass auch Crowdfunding stark zunimmt: Litauen liegt mittlerweile auf Platz vier in Europa bei den vergebenen Lizenzen.
Die Vertrauenslücke bei Verbrauchern
Trotz des industriellen Erfolgs steht der Sektor vor einem Hemmnis bei der durchschnittlichen litauischen Bevölkerung. Eine vom Fintech Hub LT in Auftrag gegebene Umfrage ergab, dass zwar 36% der Bevölkerung Fintech-Dienste nutzen (häufig wurden konkrete Namen wie Revolut genannt, um die Frage zu veranschaulichen) und 19% neugierig sind und solche Dienste ausprobieren wollen, aber ein großer Teil weiterhin zurückhaltend bleibt.
Das Haupthindernis? Die Loyalität gegenüber traditionellen Banken. Der am häufigsten genannte Grund, kein Fintech zu nutzen, lautete: „Ich vertraue meiner Bank. Ich bekomme dort alles, was ich brauche.“ „Wir müssen noch mehr an der Aufklärung der Gesellschaft arbeiten und natürlich am Vertrauen“, räumte Ranonytė ein.

Ausblick 2026: Konsolidierung und Compliance
Mit Blick auf 2026 skizzierte die Präsentation ein Umfeld, das von Konsolidierung und intensivem Regulierungsaufwand geprägt sein wird.
M&A-Welle: Mit zunehmendem Wettbewerbsdruck und stabilisierenden Lizenzzahlen zeichnet sich ein Anstieg von Fusionen und Übernahmen ab.
Zugang zur Infrastruktur: Ein wichtiger Punkt bleibt der Vorstoß für direkten Zugang zu Zahlungssystemen für Nichtbanken-Fintechs, was die Wettbewerbsfähigkeit und die Zahlungsinfrastruktur nachhaltig beeinflussen könnte.
Abbau im Krypto-Bereich: Für den Kryptosektor war die Botschaft klar: "Wind-down-Planung." Es werden wenige neue Lizenzen erwartet, während sich der Markt an das volle Gewicht der EU-Regulierung anpasst.
Ranonytė schloss mit einer direkten Botschaft an die Gründer und CEOs im Raum bezüglich ihrer internen Teams:
„Wenn Sie in Ihre Unternehmen zurückkehren, umarmen Sie Ihre Second-Line-Spezialisten und Compliance-Officer. Sie werden 2026 ein sehr intensives Jahr vor sich haben, wenn es um Compliance-Funktionen geht.“
Mit neuen AML-Paketen und steigenden regulatorischen Erwartungen ist die „Wild-West“-Phase endgültig vorbei; sie wird durch eine Phase der Professionalisierung, Konsolidierung und anspruchsvollen Compliance ersetzt.
Quelle: smarti
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