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Einleitung: Das ehrgeizigste ADAS-Realtestprojekt aller Zeiten
Im Bereich der fortschrittlichen Fahrerassistenzsysteme (ADAS) hat kaum ein Test so umfassende Einblicke in reale Alltagssituationen geboten wie das kürzlich von dem chinesischen Medienportal Dongchedi (DCARSTUDIO) durchgeführte Experiment. Die Redaktion sperrte eine echte Autobahn und setzte 36 unterschiedliche Fahrzeuge – darunter Marken wie Tesla, BYD, Mercedes-Benz, Xiaomi und viele weitere – auf einen anspruchsvollen ADAS-Obstacletest. Das Ergebnis: 216 simulierte Kollisionen und ein aufschlussreicher Blick auf die aktuellen Stärken und Schwächen moderner Fahrerassistenzsysteme.
Für Auto-Enthusiasten und Alltagsfahrer gleichermaßen bietet dieser Realvergleich nicht nur theoretische Messwerte. Vielmehr werden die Systeme in hochriskanten, für echte Fahrer relevanten Szenarien direkt gegeneinander getestet. Das Fazit ist beunruhigend: Trotz deutlicher Fortschritte ist kein System fehlerfrei. Insbesondere Tesla, das auf reine Kamera-Erkennung setzt, überzeugte zwar mit soliden Ergebnissen, doch branchenweit zeigten sich viele Inkonsistenzen.
Die Entwicklung moderner ADAS und Crashtests
Bisher lag der Schwerpunkt von Crashtests auf der physischen Sicherheit und dem Insassenschutz bei Unfällen, wie es etwa Euro NCAP und IIHS vormachen. Mit dem technologischen Fortschritt sind jetzt digitale Systeme wie das automatische Notbremsen (AEB) und verschiedene ADAS-Funktionen im Fokus, die Unfälle aktiv verhindern sollen.
Hersteller setzen hierzu Features wie Teslas Full Self-Driving, BYDs „God’s Eye“ oder den Drive Pilot von Mercedes-Benz ein – als sogenannte Level-2-Systeme nach SAE-Klassifikation ausgelegt. Diese Technologien steuern bereits auf gut markierten Autobahnen Lenkung, Gas und Bremse – ein Vorgeschmack auf autonomes Fahren, auch wenn Level 4 oder 5 noch Zukunftsmusik sind.
Doch sind die aktuellen Fahrerassistenzsysteme tatsächlich bereit für den Alltag? Diese Frage stellte DCAR mit seinen umfangreichen ADAS-Praxistests erstmals unter realen Bedingungen in den Mittelpunkt.
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Hinter den Kulissen: Wie Dongchedi den ultimativen ADAS-Test entwickelte
Für den ausführlichen 92-minütigen Videobericht ließ DCAR einen Abschnitt einer chinesischen Schnellstraße sperren und konstruierte sechs realitätsnahe Unfallszenarien, die auch echte Unfälle verursachen könnten:
- Plötzliche Blockade: Ein vorausfahrendes Fahrzeug wechselt abrupt die Spur, ein Hindernis erscheint und lässt wenig Zeit zum Reagieren.
- Unerwartete Baustelle: Das System muss schnell auf einen Baustellenbereich reagieren und sicher die Spur wechseln.
- Nachts auf dem Seitenstreifen: Ein Lkw ragt in die Fahrbahn hinein und wird erst spät im Dunkeln erkannt.
- Unfall im Dunkeln: Ein unbeleuchtetes Fahrzeug blockiert zwei Spuren – simuliert einen gerade geschehenen Unfall.
- Agressives Einfädeln: Ein Fahrzeug wechselt schnell von der Auffahrt über mehrere Spuren und bringt das Testfahrzeug in Bedrängnis.
- Wildwechsel: Ein Wildschwein läuft über die Autobahn – diese Szene prüft, ob das ADAS lebendige Hindernisse zuverlässig erkennt.
In den meisten Testszenarien befand sich bewegter Verkehr um das Testauto, was authentischen Autobahndruck und keine Fehler-Toleranz schuf. Nicht jedes Testfahrzeug absolvierte alle Tests, teils aufgrund von Sensorschäden oder zur Effizienzsteigerung – oft wurde das beste Modell einer Marke im fortgeschrittenen Testlauf priorisiert.
Testfahrzeuge und ADAS-Technologien
Teilgenommen haben unter anderem:
- Tesla: Model 3, Model X (kamera-basiertes ADAS)
- BYD: Han, Tang, Seal (Radar, Kamerasysteme, God’s Eye Paket)
- Mercedes-Benz: C-Klasse (Drive Pilot, Radar & Kameras)
- Xiaomi SU7 (Erstes E-Auto, mit AEB & KI-Assistenzsystemen)
- Huawei-basierte Aito M7, M8, M9 (LiDAR, Kamera, Radar-Kombinationen)
- Sowie führende chinesische Marken: Li Auto, Xpeng, Nio, Zeekr
Das Spektrum reichte von reinen Kamera-Lösungen (wie bei Tesla) über hybride Kamera-/Radarsysteme bis hin zu fortschrittlichen Kombinationen mit LiDAR. Theoretisch sollten LiDAR-Systeme vor allem nachts sowie bei schlechter Sicht punkten, während Kamerasysteme eine Rundum-Sicht ermöglichen. Doch wie die Tests zeigen, stimmt Theorie nicht immer mit der Praxis überein.
Praxisnahe Katastrophen: Die ADAS-Leistungen im Szenariovergleich
Die Ergebnisse sind ernüchternd: Die meisten Testfahrzeuge schnitten unter hoher Belastung nur teilweise oder gar nicht zufriedenstellend ab. Viele Systeme trafen Entscheidungen, die menschlichen Fehlern ähnelten, zeigten Unsicherheit, unvorhersehbares Ausweichen oder fehlerhafte Auslösung der Assistenten – mit leichten oder auch massiven Kollisionen als Folge.
Zentrale Beobachtungen:
- Schwache Szenarien-Erkennung: Viele ADAS-Lösungen hatten Probleme, Gefahrensituationen auf der Autobahn – vor allem bei plötzlichen Hindernissen oder im Dunkeln – rechtzeitig zu erfassen.
- Ausweichen vor Bremsen: Häufig setzten Systeme zunächst zum Ausweichmanöver an – teils direkt in den Nebenverkehr – bevor gebremst wurde. Das kann unter echten Bedingungen selbst weitere Gefahren schaffen.
- Uneinheitliche Ergebnisse innerhalb der Marken: Selbst Fahrzeuge desselben Herstellers schnitten teils sehr unterschiedlich ab. Beispiel: Der Aito M9 wich drei von sechs Hindernissen aus, sein Schwestermodell M8 nur einem. Teslas Model 3 und Model X schafften jeweils fünf von sechs Szenarien, jedoch versagte jedes bei einem anderen Test.
- Systemkonflikte: Einige Fahrzeuge zeigten mit aktiviertem Komplett-ADAS schlechtere Resultate als allein mit aktiviertem Notbremsassistent. Der Xiaomi SU7 zum Beispiel aktivierte zwar AEB, zögerte jedoch zu lang, was den Unfall verursachte.
- Schwäche bei Seltenheitsereignissen: Der Wildschwein-Test zeigte große Unterschiede; nur der Tesla Model X wich dem Tier gekonnt aus, fast alle anderen Systeme versagten beim plötzlichen Wildwechsel – ein klares Defizit bei der Abdeckung seltener, aber kritischer Szenarien.
Analyse: Warum schnitten manche Marken besser ab als andere?
Hervorzuheben ist Tesla, das mit seiner reinen Kameratechnik nahezu alle Szenarien überdurchschnittlich meisterte. Tesla profitiert hier von jahrelanger Fahrerassistenz-Erfahrung, riesigen Flotten und kontinuierlichen Over-the-Air-Updates.
Im Gegensatz dazu taten sich neuere Marken oder Anbieter mit noch unausgereiften Sensorkombinationen schwer, vor allem in Ausnahmesituationen. Das zeigt: Neben Sensoren zählt vor allem die massive Menge an realen Fahrdaten und eine ausgereifte Algorithmen-Optimierung.
Markeninterne Unterschiede
Der Test offenbarte, dass Fahrzeuge mit identischer ADAS-Hardware und Software unterschiedlich reagieren. Ursachen dafür könnten minimale Softwareversionen, Kalibrierungsabweichungen oder Testrandbedingungen sein. Letztlich verdeutlicht es, dass aktuelle Machine-Learning-Modelle bei selteneren Gefahrensituationen noch Schwierigkeiten mit Zuverlässigkeit und Vorhersagbarkeit haben.
Marktrelevanz: Was bedeutet das für die Zukunft des autonomen Fahrens?
Da Hersteller weltweit mit den „Smart Car“-Technologien um die Vorherrschaft kämpfen, werden ADAS-Funktionen als neues Sicherheits-Highlight beworben. Doch die Testergebnisse zeigen: Selbst führende Systeme sind nicht narrensicher.
Mehrere Länder – darunter Kalifornien – haben bereits rechtliche Schritte gegen irreführende Werbung rund ums autonome Fahren eingeleitet. Der Realtest unterstreicht, dass ADAS derzeit nur einen unterstützenden Charakter hat. Komplett autonomes, unaufmerksames Fahren bleibt bislang außerhalb eng limitierter Szenarien unmöglich.
Zentrale Empfehlungen für Verbraucher und Branche
- ADAS-Technik entwickelt sich rasant, ist aber selbst bei Top-Modellen noch fehleranfällig.
- Beim Autokauf sollten nicht nur Funktionslisten, sondern auch nachweislich getestete Zuverlässigkeit der Systeme kritisch betrachtet werden – insbesondere bei neuen Marken.
- Transparenz, Update-Politik, Sensor-Justierung und Notfallprotokolle sind ebenso entscheidend wie technische Spezifikationen.
Technik-Exkurs: Warum stoßen aktuelle ADAS-Systeme an ihre Grenzen?
Ein zentrales Testfazit: Moderne Fahrerassistenzsysteme beruhen fast vollständig auf Machine-Learning-Verfahren. Diese Black-Box-Systeme führen dazu, dass selbst Entwickler das Verhalten bei neuen Gefahrensituationen kaum vorhersagen oder erklären können.
Wie Professor Lu Guang Quan von der Universität für Luft- und Raumfahrt Peking erklärt: „Ein lernendes Modell sammelt nur Erfahrungen – es weiß, wie man fährt, aber nicht warum.“ In seltenen Gefahrensituationen – etwa bei plötzlich auftauchendem Wild oder ungewöhnlich geparkten Fahrzeugen bei Nacht – stoßen diese Systeme an ihre Grenzen und reagieren oft unvorhersehbar.
Im Unterschied zu früheren regelbasierten Systemen, die gezielt angepasst werden konnten, ist das Verhalten lernender Systeme in unbekannten Szenarien nur schwer vorhersehbar.
Die Rolle von Sensorik und Hardware
Zwischen Kamera-basierten („Vision only“) Ansätzen, Radarergänzungen und LiDAR-Systemen herrscht bislang kein eindeutig bestes Konzept. Teslas Erfolge im vorliegenden Test sind bemerkenswert, doch LiDAR-Fahrzeuge könnten in extrem schlechten Sichtverhältnissen – noch nicht getestet – ihre Vorteile ausspielen.
Kunden sollten daher nicht nur den Marketingversprechen trauen, sondern auch die Testergebnisse und die bewährte Sicherheit im Praxisbetrieb berücksichtigen.
Design und Fahrzeugspezifikationen: Hardware zählt
Moderne ADAS-Funktionen sind längst zentrale Bestandteile der Fahrzeugentwicklung – angefangen bei Sensoranordnung bis zur Integration der Steuerelektronik:
- Tesla: 360-Grad-Kamerasystem, enge Integration mit FSD-Chip, keine Radar- oder LiDAR-Technik; regelmäßige Softwareupdates.
- BYD und Aito: Kamera-Radar-Kombinationen, M9 etwa mit LiDAR für bessere Objekterkennung bei Extremfällen; die Leistungsfähigkeit hängt aber maßgeblich von der Software ab.
- Xiaomi SU7: Neues E-Auto mit fortschrittlichen KI-Steuermodulen, aber der Test zeigt noch Optimierungsbedarf bei der Software.
Auch Fahrzeugdynamik – wie Bremsweg, Lenkbefehle und Reifenhaftung – spielt eine Rolle, wie effektiv ADAS im Ernstfall eingreifen kann. Selbst das agilste Chassis nützt wenig, wenn der Sensor falsche oder verzögerte Signale gibt.
Vergleichstabellen und Marktpositionierung
Das Video von DCAR enthält ausführliche, farbcodierte Ergebnislisten (auf Chinesisch), die alle Szenarien und Marken vergleichen. CarNewsChina hat eine übersetzte Übersicht für internationale Leser zur Verfügung gestellt – hilfreich für globale Interessenten.
Zentrale Trends:
- Tesla bestätigt durchgängig seine Führungsrolle, was für die Qualität großflächiger Praxiserprobung spricht.
- Traditionelle Premiumhersteller wie Mercedes zeigten keine klaren Vorteile; in einigen Fällen führten Sensorfehler zu Abbrüchen.
- Chinesische Start-ups und technologieorientierte Marken erzielten teils bemerkenswerte Ergebnisse, aber keinen Dauersieger wie Tesla.
Auswirkungen auf die Industrie und Zukunftsperspektiven für Smart Cars
Der aktuelle Stand der ADAS-Technologie ist beachtlich, aber noch weit von Vollendung entfernt. Während alle Hersteller autonome und smarte Fahrfunktionen einführen, sind regulatorische Überprüfungen und transparente Tests entscheidend, um Sicherheit und Kundenvertrauen zu gewährleisten.
Hersteller wie Tesla profitieren klar von frühen Praxiseinsätzen, einem großen Datenpool und schnellen Entwicklungszyklen. Neue Anbieter müssen intensiv in reale Fahrtests investieren – statt sich auf Marketing zu verlassen.
Herausforderungen bleiben:
- Absicherung seltener Hochrisikosituationen
- Konsistente Systemleistungen über verschiedene Fahrzeugmodelle hinweg
- Laufende Sensorjustierung und Software-Pflege während der gesamten Fahrzeugnutzung
Expertenurteil: Hände am Steuer – vorerst unverzichtbar
Sowohl DCAR als auch unabhängige Experten raten klar: Trotz schneller Fortschritte sind alle ADAS-Systeme aktuell nur als Fahrerunterstützung und nicht als Ersatz zu verstehen. Wie es im Fazit des Videos heißt: „Mit dem heutigen Stand sind komplett freihändiges oder fußloses Fahren nicht möglich. Unabhängig vom Marketing sollte ADAS als Sicherheitsassistenz betrachtet werden. Der Mensch muss stets die Hauptkontrolle behalten, ADAS reduziert höchstens das Fahrer fatigue. Selbst ein Restrisiko von 1% kann in der Praxis zu 100% Unfällen führen.“
Fazit und Handlungsempfehlungen
Das große ADAS-Realexperiment in China liefert eine deutliche Orientierung für Autofahrer weltweit:
- Nutzen Sie ADAS und moderne Fahrerassistenzsysteme als unterstützende Technik, niemals als Hauptabsicherung.
- Halten Sie stets genügend Abstand und bleiben Sie aufmerksam – unabhängig vom Stand der Fahrzeugtechnik.
- Seien Sie kritisch gegenüber Werbeversprechen: Orientieren Sie sich an realen Testergebnissen und unabhängigen Bewertungen.
- Fordern Sie regelmäßige Softwareupdates, kompetente Rückrufpolitik und Transparenz von Ihrem Hersteller ein.
Das Tesla-Ergebnis ist respektabel, doch kein System ist unfehlbar. Im spannenden Wandel der Automobilsicherheit und des autonomen Fahrens bleibt ein aufmerksamer Fahrer bislang die beste Versicherung gegen unvorhersehbare Risiken.
Wer sich tiefer informieren möchte, sollte das vollständige Video auf dem Kanal von DCARSTUDIO ansehen – ein Muss für alle, die sich für die Zukunft von Smart Cars, fortschrittlichen Fahrerassistenzsystemen und Verkehrssicherheit interessieren.
Quelle: electrek
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