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Sexuelle Beziehungen sind ein zentraler Aspekt im Leben vieler Erwachsener und stehen in Verbindung mit emotionalen, sozialen und ökonomischen Folgen. Dennoch berichtet ein kleiner Teil der Erwachsenen, noch nie Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Eine kürzlich durchgeführte großangelegte Studie unter Leitung von Forschenden am Amsterdam UMC und Kolleginnen und Kollegen — darunter Brendan Zietsch — analysierte etwa 400.000 Bewohner des Vereinigten Königreichs (Alter 39–73) und rund 13.500 australische Teilnehmende (Alter 18–89), um die Merkmale zu untersuchen, die mit lebenslanger Sexlosigkeit verbunden sind. Ungefähr 1 % sowohl der Männer als auch der Frauen in diesen Stichproben gab an, noch nie Sex gehabt zu haben.
Wesentliche demografische und regionale Muster
Die Forschenden untersuchten soziale, ökologische, körperliche, psychische und genetische Daten, um Muster zu identifizieren, die mit Sexlosigkeit zusammenhängen. Zwei regionale Befunde traten besonders hervor:
- Sexlose Männer lebten häufiger in Regionen mit vergleichsweise weniger Frauen.
- Bei beiden Geschlechtern war Sexlosigkeit häufiger in Regionen mit höherer Einkommensungleichheit.
Diese Ergebnisse spiegeln frühere Analysen von Social-Media-Beiträgen zu unfreiwillig zölibatären Gruppen („incel“) wider, die ebenfalls in US-Regionen mit unausgewogenen Geschlechterverhältnissen und größerer wirtschaftlicher Ungleichheit konzentriert waren. Die regionalen Zusammenhänge deuten darauf hin, dass lokale Partnerverfügbarkeit und sozioökonomischer Kontext die Wahrscheinlichkeit beeinflussen, sexuelle Partner gehabt zu haben.
Psychologische, soziale und körperliche Begleitfaktoren
Die Studie verknüpfte Sexlosigkeit mit mehreren Indikatoren für Wohlbefinden und Lebensstil. Personen, die angaben, noch nie Sex gehabt zu haben, neigten dazu:
- Stärkere Einsamkeit, Nervosität und geringere Zufriedenheit zu erleben;
- Weniger soziale Besuche zu haben und seltener Vertraute zu besitzen;
- Ein geringeres Gefühl von Lebenssinn zu berichten;
- Drogen- und Alkoholkonsum seltener zu berichten;
- Höhere schulische und akademische Bildung zu besitzen und häufiger schon in jüngerem Alter Brillen getragen zu haben.
Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigten sich bei einigen körperlichen Maßen: Männer mit geringerer Griffkraft und reduzierter Armmuskelmasse (als Proxy für allgemeine Oberkörperkraft) hatten seltener Sexualerfahrungen; dieser Effekt zeigte sich nicht bei Frauen. Das Gesamtprofil — höhere Bildung und gemessene Intelligenz, verringerte körperliche Stärke und größere soziale Isolation — stimmt mit gängigen Stereotypen über „nerdige“ Jugendliche überein, die frühe romantische Rückschläge erfahren und deren Folgen bis ins Erwachsenenalter anhalten können.
Genetische Analysen und Merkmalskorrelationen
Heritabilität und polygene Effekte
Genetische Daten ermöglichten eine genomweite Assoziationsanalyse (GWAS). Die Forschenden schätzten, dass genetische Unterschiede etwa 15 % der Variation erklären, ob eine Person jemals Sex gehabt hat. Das bedeutet nicht, dass es ein einzelnes "Sexlosigkeits-Gen" gäbe; vielmehr üben viele genetische Varianten jeweils sehr kleine Effekte aus.

Genetische Korrelationen mit anderen Merkmalen
Mithilfe von bereichsübergreifenden genetischen Korrelationen identifizierte die Studie Verknüpfungen zwischen Sexlosigkeit und anderen genetisch untersuchten Merkmalen. Auffällige Korrelationen umfassten:
- Positive genetische Korrelationen mit gemessener Intelligenz, Bildungserfolg, höherem Einkommen und sozialem Status;
- Positive Korrelationen mit Introversion, Autismus-Spektrum-Merkmalen und Anorexie;
- Negative Korrelationen mit Substanzgebrauchs- und -abhängigkeitsstörungen (Drogen- und Alkoholstörungen) sowie mit Depression, Angststörungen und ADHS.
Diese Muster deuten auf gemeinsame genetische Einflüsse zwischen Sexlosigkeit und bestimmten kognitiven, Persönlichkeits- und psychiatrischen Merkmalen hin, begründen aber für sich genommen keine kausalen Zusammenhänge oder Richtungen der Effekte.
Ursache und Wirkung interpretieren
Der querschnittliche Charakter der Daten lässt mehrere Interpretationen zu. Zum Beispiel könnte Sexlosigkeit das Wohlbefinden verringern, oder vorbestehende psychische oder soziale Merkmale könnten die Wahrscheinlichkeit, sexuelle Beziehungen einzugehen, vermindern. Zudem erfasste der Datensatz nur, ob Teilnehmende jemals Sex gehabt hatten, nicht jedoch, ob sie Sex wünschten; daher dürfte die Sexlosigkeit in dieser Stichprobe sowohl freiwillige (z. B. Asexualität) als auch unfreiwillige Fälle umfassen. Einige Zusammenhänge — etwa die Verknüpfung mit lokalen Geschlechterverhältnissen und männlicher Stärke — lassen sich kaum allein durch freiwillige Asexualität erklären und deuten auf einen erheblichen unfreiwilligen Anteil hin.
Fachliche Einschätzung
Dr. Maya Reynolds, Sozialepidemiologin, kommentiert: „Diese Studie erweitert unser Verständnis, indem sie soziale, körperliche und genetische Messgrößen in sehr großen Stichproben kombiniert. Sie macht deutlich, dass Sexlosigkeit multifaktoriell ist: lokale Gelegenheitsstrukturen, individuelle Merkmale und gemeinsame genetische Faktoren spielen alle eine Rolle. Zukünftige Längsschnitt- und qualitativ informierte Arbeiten sind notwendig, um Ursache und Folge zu trennen und die Vielfalt erwachsener sexualer Erfahrungen zu respektieren.“
Folgerungen und zukünftige Forschung
Die Ergebnisse haben mehrere praktische Implikationen. Gesundheits- und Sozialprogramme sollten vermeiden, Menschen, die keinen Sex haben, zu stigmatisieren, zugleich aber anerkennen, dass unfreiwillige Sexlosigkeit mit Einsamkeit und geringerem Wohlbefinden einhergehen kann. Forschungsschwerpunkte sollten umfassen: das Sammeln von Daten, die Wunsch und Verhalten unterscheiden, Längsschnittverfolgung zur Klärung kausaler Pfade und kulturell vielfältige Stichproben zur Prüfung der Generalisierbarkeit. Größere genetische Studien und verbesserte Messungen des sozialen Kontexts könnten weiter aufklären, wie Umwelt und genetische Veranlagung interagieren.
Schlussfolgerung
Diese großangelegte Studie zeigt, dass lebenslange Sexlosigkeit selten ist, aber mit einem komplexen Mix aus regionalen, sozialen, körperlichen und genetischen Faktoren verknüpft ist. Etwa 15 % der Variation lassen sich genetischen Unterschieden zuschreiben, wobei kein einzelnes Gen dominiert. Die Assoziationen mit Intelligenz, Bildung, Introversion und lokalen Geschlechterverhältnissen deuten auf sowohl freiwillige als auch unfreiwillige Pfade hin. Weitere differenzierte, längsschnittliche und kulturvergleichende Forschung ist nötig, um Ursachen und Folgen zu entwirren und nicht wertende Maßnahmen zu entwickeln, die das soziale und emotionale Wohlbefinden aller Erwachsenen unterstützen.
Quelle: sciencealert
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