7 Minuten
Andrea Iervolino startet einen virtuellen Auteur
Der italienische Produzent Andrea Iervolino, bekannt für Premiummarken wie Ferrari und To the Bone, hat ein mutiges neues Projekt angekündigt: The Sweet Idleness, ein Spielfilm, der in Name und System von einer KI namens FellinAI inszeniert werden soll. Das Vorhaben wird als Experiment beschrieben, das menschliche Sensibilität mit maschineller Kreativität verbinden will. Der Zeitpunkt ist nicht zufällig: Generative KI-Technologien drängen mittlerweile an alle Grenzen von Film und bildender Kunst und stellen etablierte Prozesse in Frage.
The Sweet Idleness entwirft eine nahe Zukunftsgesellschaft, in der nur noch ein Prozent der Bevölkerung regulär arbeitet, während die große Mehrheit dank Automatisierung in einem Leben größtenteils aus Muße lebt. Die wenigen verbleibenden Arbeiter inszenieren Arbeit als symbolisches Ritual; sie entwickeln sich zu einer Art zeremonieller Gegenwehr gegen die Bedeutungsauflösung durch Maschinen. Iervolino sagt, der Film solle „die poetische und traumhafte Sprache des großen europäischen Kinos feiern“ — eine Formulierung, die auch den Namen FellinAI erklärt: ein dezenter Tribut an Federico Fellini und die stilistische Linie von lyrischem, surrealem Erzählen.
Was ist FellinAI und wie funktioniert das System?
FellinAI gehört zur Andrea Iervolino Company AI, der technologischen Sparte von Iervolinos Produktionsgruppe. Das System wird als algorithmischer Regisseur beschrieben — eine Pipeline, die kreative Entscheidungen, Dramabögen, visuelle Farbpaletten und sogar Planungen auf Shot-Ebene generiert. Technisch handelt es sich um eine Kombination aus Modulen für Story-Generation, Bildkomposition und Shot-Sequenzierung, die auf vortrainierten Modellen und speziell kuratierten Datensätzen läuft. Iervolino selbst positioniert sich als „human-in-the-loop“: Er überwacht, kuratiert und lenkt die KI, anstatt sie unbeaufsichtigt arbeiten zu lassen.
Gedreht wird mit realen Darstellern; ihre digitalen Abbilder werden von Actor+, Iervolinos interner Agentur, erstellt. Diese virtuellen Stand-ins werden von FellinAI als Teil der Regieentscheidungen eingesetzt, etwa um Varianten von Szenen visuell durchzuspielen oder um Stunts und komplexe visuellen Effekte vorab zu evaluieren. Der Ansatz soll einem hybriden Workflow entsprechen, in dem Menschen und Maschinen komplementär zusammenarbeiten: Kreative Entscheidungen werden algorithmisch vorgeschlagen und vom Produktionsteam validiert, modifiziert oder verworfen.

Ein Teaser-Trailer wurde bereits veröffentlicht, ein offizieller Starttermin steht jedoch noch aus. Das Produktionsmodell setzt stark auf hybride Kollaboration: Schauspieler, VFX-Teams und ein überwachender Produzent formen gemeinsam einen Film, dessen formale Entscheidungen von Machine-Learning-Modellen beeinflusst werden, die auf einem breiten Korpus cineastischer Werke trainiert wurden. Technisch gesehen umfasst die Pipeline Datensätze zur Bildästhetik, Skript-Annotationsdaten, Style-Transfer-Modelle und Verfahren zur temporalen Kohärenz zwischen Shots.
Branchenkontext und Kontroversen
Die Ankündigung erfolgt vor dem Hintergrund hitziger Debatten über synthetische Darsteller — insbesondere nach dem öffentlichen Aufschrei um die KI-erzeugte Figur „Tilly Norwood“, die für starke Gegenreaktionen von Schauspielern und Gewerkschaften sorgte. Gewerkschaften wie SAG-AFTRA und prominente Schauspielerinnen und Schauspieler, darunter Emily Blunt, äußerten Bedenken, dass synthetisch erzeugte Figuren, die auf der Arbeit lebender Künstlerinnen und Künstler trainiert wurden, Karrieren unterminieren und die menschliche Erfahrung, die dem Schauspiel zugrunde liegt, aushöhlen könnten. Iervolino betont, dass The Sweet Idleness nicht traditionelle Formen des Kinos ersetzen solle; FellinAI werde als kreatives Werkzeug verstanden, nicht als vollständig autonomer Ersatz für menschliche Regiearbeit.
Dieser Schritt reiht sich in einen größeren Trend ein: Sowohl große Studios als auch Independent-Produzentinnen und -Produzenten experimentieren mit KI in Bereichen wie Previsualisierung, Drehbuchanalyse, automatisiertem Color-Grading und sogar generativer Sound-Design. Während frühere digitale Phasen der Filmproduktion Werkzeuge zur Demokratisierung der Bildproduktion bereitstellten, wirft die aktuelle Entwicklung neue Fragen zu Autorschaft, Einwilligung (Consent) und der Ethik beim Training von Modellen auf Werkbasis auf. Regulierungsfragen und urheberrechtliche Implikationen sind mittlerweile zentrale Diskussionsthemen in der Branche.
Vergleiche, Einflüsse und worauf man achten sollte
Tonal erinnert The Sweet Idleness eher an kunstvollen Science-Fiction- und spekulative Fabeln — Werke wie The Lobster oder A Field in England kommen in den Sinn, die surreale Prämissen nutzen, um soziale Rituale und Machtstrukturen zu hinterfragen. Im Vergleich zu Iervolinos früheren Filmen, die von biografischer Epik bis zu glänzender Dramatik reichten, verspricht FellinAI einen experimentelleren Zugang: Es geht nicht nur um einen anderen Regisseur auf dem Papier, sondern um eine veränderte Entscheidungslogik im Produktionsprozess.
Hinter den Kulissen ruft der Einsatz von Actor+ zur Erstellung digitaler Abbilder Debatten über Deepfakes und digitale Auferstehungen hervor; anders als Projekte, die verstorbene Stars rekonstruieren, soll Iervolinos Ansatz auf dem freiwilligen Einverständnis der beteiligten Schauspielerinnen und Schauspieler basieren. Diese Unterscheidung könnte für Rezeption und gewerkschaftliche Bewertungen entscheidend sein: Einvernehmliche, transparente Prozesse werden voraussichtlich besser akzeptiert als intransparente Modelltrainings auf unveröffentlichtem oder nicht genehmigtem Material.
„Dieses Projekt markiert einen Wendepunkt im Kino“, sagt der Filmhistoriker Marko Jensen. „Es testet nicht nur ein neues Werkzeug — es prüft die Beziehung zwischen Handwerk und Maschine. Ob das Publikum einen maschinell geprägten ästhetischen Stil annimmt, hängt stark davon ab, wie offen und ethisch diese Arbeit realisiert wird.“ Solche Beobachtungen sind wichtig, weil sie die doppelte Messlatte benennen, an der The Sweet Idleness gemessen wird: künstlerische Qualität und industrielle Auswirkungen.
Künstlerisch könnte ein Film, der KI wirklich nutzbringend einsetzt, die filmische Sprache erweitern — etwa durch ungewöhnliche Kameraperspektiven, algorithmisch kollektierte Bildmotive oder neue Formen narrativer Sprünge, die Menschen allein schwer kalkulierbar wären. Umgekehrt könnte ein Werk, das vor allem bestehende Stilmittel rekonstruiert und dabei ungekennzeichnete Trainingsdaten nutzt, Forderungen nach strikteren Regeln und stärkerem Schutz für Kreativschaffende befeuern.
Für Filmfans, Festival-Kuratoren und Kritiker wird die interessante Frage sein, wie eine KI-informierte Vision auf der Leinwand wirkt. Präsentiert FellinAI eine kohärente ästhetische Stimme, die als „Maschinen-Auteur“ lesbar ist, oder bleibt sie eine Collage gelernter Muster, die filmisches Pathos nachahmt? Unabhängig vom Ausgang hat Iervolino die Tür zu einem öffentlichen Experiment geöffnet — und die anschließende kreative wie politische Reaktion wird Teil des Films und seines Diskurses sein.
Beobachter sollten deshalb mehrere Ebenen im Blick behalten: die technische Integrität der Modelle (Datenquellen, Bias-Management), die Transparenz gegenüber Mitwirkenden (Verträge, Zustimmungen) und die Art und Weise, wie das Endprodukt verteilt wird (Festivals, Streaming, Kinoauswertung). Jede dieser Dimensionen beeinflusst, ob FellinAI als Fortschritt, Risiko oder beides wahrgenommen wird.
Sehen Sie sich den Teaser an und verfolgen Sie Ankündigungen zum Release. Ob FellinAI die Zukunft der Regie ankündigt oder vor allem ein produktives Streitobjekt bleibt — The Sweet Idleness hat bereits begonnen, wichtige Fragen zu Autorschaft, Technologie und der Zukunft des Filmemachens zu stellen. Gerade diese Diskussionen machen das Projekt für die Branche wertvoll, weil sie zum Nachdenken über neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Menschen, Algorithmen und visueller Kultur zwingen.
Quelle: deadline
Kommentar hinterlassen