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Jährlich werden weltweit Millionen Zähne entfernt und entsorgt. Im weichen Gewebeinneren dieser weggeworfenen Zähne, der Zahnpulpa, haben Forschende jedoch eine vielversprechende Quelle für Stammzellen entdeckt. Diese Zellen lassen sich in neuronähnliche Zellen umwandeln und könnten künftig ein therapeutisches Werkzeug zur Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer, Huntington oder bestimmter Epilepsieformen darstellen.
Wie Zahnpulpa zur Quelle für Neuronen wird
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Universität des Baskenlandes (University of the Basque Country, UPV/EHU) in Spanien zeigten kürzlich, dass Stammzellen aus der Zahnpulpa ohne genetische Modifikation in elektrisch aktive, neuronähnliche Zellen differenziert werden können. Anders als die meisten erwachsenen Neurone, die sich nicht mehr teilen und deshalb nach Verlust nicht ersetzt werden können, zeigen diese aus Zahngewebe stammenden Zellen die Fähigkeit, sich in Zellen zu entwickeln, die hemmenden Neuronen ähneln. Diese Zelluntergruppe spielt eine entscheidende Rolle bei der Dämpfung überaktiver neuronaler Netzwerke.
Vom Kulturgefäß zur elektrischen Aktivität
Laut José Ramón Pineda, einem der Autoren der Studie, gilt: „Wenn transplantierte Zellen verlorene Neurone in einem geschädigten neuronalen Schaltkreis ersetzen sollen, müssen sie elektrische Impulse erzeugen können.“ In den spanischen Experimenten kultivierten die Forschenden Zahnpulpastammzellen und setzten sie einer Abfolge biochemischer Signale aus. Im Laufe der Zeit erwarben die Zellen elektrophysiologische Eigenschaften, die typisch für Neurone sind: sie bildeten Membranpotenziale aus und zeigten Ionenkanalaktivität, und das ohne Eingriffe auf genetischer Ebene.

Wesentlich war zudem, dass die Zellen den hemmenden Neurotransmitter GABA produzierten. GABAerge Neurone sind für das Gleichgewicht von Erregung und Hemmung im Gehirn unverzichtbar; ihr Verlust in spezifischen Hirnregionen trägt zu Erkrankungen wie der Huntington-Krankheit und bestimmten Formen der Epilepsie bei, in denen neuronale Schaltkreise hyperexzitabel werden.
Die Beobachtung, dass Zahnpulpastammzellen GABA synthetisieren können, ist relevant für die Entwicklung zielgerichteter Therapien, weil die Wiederherstellung oder Ergänzung hemmender Funktionen ein direkter Weg ist, pathologische Übererregbarkeit zu reduzieren. Mechanistisch lassen sich solche Differenzierungsprozesse durch die zeitlich abgestimmte Zugabe von Wachstumsfaktoren, Neurotrophinen und Signalmolekülen wie Notch-, Wnt- oder BMP-Modulatoren steuern, die zusammen die Genexpressionsprogramme in Richtung neuronaler Reifung ausrichten.
Tierexperimentelle Befunde: Kognitive Verbesserung nach Injektion
Unabhängig davon liefern Arbeiten chinesischer Forscher ermutigende präklinische Ergebnisse. In Mausmodellen der Alzheimer-Krankheit führte eine einmalige Injektion von Zahnpulpastammzellen zu messbaren Verbesserungen. Kurzfristige Effekte waren bereits innerhalb von fünf Wochen nachweisbar, und überraschenderweise hielten einige Vorteile bis zu sechs Monate an. Die injizierten Zellen wanderten in den Hippocampus ein — eine zentrale Hirnregion für Lernen und Gedächtnis — und differenzierten dort vielfach zu neuen, neuronähnlichen Zellen.
Diese Ergebnisse sind zwar kein Heilmittel, legen aber nahe, dass Zahnpulpastammzellen in der Lage sind, in vivo zu überleben, sich zu integrieren und möglicherweise das Fortschreiten pathologischer Veränderungen in Modellen neurodegenerativer Erkrankungen zu verlangsamen. Daraus ergeben sich wichtige Fragestellungen zu Zeitpunkten für die Therapie, optimalen Dosierungen, Transplantationsorte und zur langfristigen Sicherheit, die vor der Durchführung klinischer Studien geklärt werden müssen.
Präklinische Studien zeigen außerdem, dass integrierte Zellen nicht nur morphologisch neuronale Eigenschaften annehmen, sondern in vielen Fällen auch funktionelle Kontakte bilden. Elektrophysiologische Untersuchungen wie Patch‑Clamp‑Aufzeichnungen und in vivo Calcium‑Imaging sind hierbei entscheidend, um nachzuweisen, dass neue Zellen synaptisch eingebunden sind und zur Netzwerkaktivität beitragen.
Warum entsorgte Zähne eine praktische Stammzellquelle sind
Weisheitszähne und andere Extraktionszähne — die häufig in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter entfernt werden — stellen eine weitgehend ungenutzte und ethisch unproblematische Zellquelle dar. Im Vergleich zur Entnahme von Knochenmark ist die Gewinnung von Zahnpulpa minimalinvasiv und für die Patientinnen und Patienten in der Regel schmerzfrei. Zellen jüngerer Spender besitzen außerdem meist eine höhere Proliferationskapazität und weniger angesammelte DNA-Schäden als Zellen älterer Spender, was die zelluläre Qualität für regenerative Anwendungen erhöhen kann.
Wichtig ist auch der ethische Aspekt: Die Nutzung von Gewebe, das sonst entsorgt würde, umgeht kontroverse Diskussionen um embryonale Stammzellen. Zahnpulpastammzellen verbinden damit gute Zugänglichkeit, junge biologische Eigenschaften und geringere ethische Hürden — ein attraktives Profil für translationale Forschung in der regenerativen Neurologie.
Aus praktischer Sicht ermöglichen dentale Stammzellen außerdem die Einrichtung spezialisierter Zellbanken (Biobanken) für autologe oder allogene Anwendungen. Die Logistik umfasst standardisierte Entnahmeprotokolle, Kryokonservierung, Qualitätstests auf Kontaminationen, Genomstabilität und Differenzierungsfähigkeit sowie eine Dokumentation der Spenderdaten unter Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorgaben.
Potentielle Anwendungen und nächste Schritte
Forscherinnen und Forscher sehen mehrere klinische Entwicklungswege vor: autologe Therapien mit den eigenen extrahierten Zähnen des Patienten, gelagerte allogene Zellpräparate von jungen Spendern oder „off-the-shelf“-Produkte, die nach strenger Sicherheitsprüfung bereitgestellt werden. Kurzfristige Prioritäten sind der Nachweis einer konsistenten Integration dental-abgeleiteter Neuronen in adulte menschliche Schaltkreise, die Bildung geeigneter Synapsen sowie das Ausschließen von Risiken wie unerwünschtem Zellwachstum (Tumorbildung) oder Immunabstoßung.
Weitere Technologien werden vermutlich mit dem Ansatz kombiniert. Biomaterial-Scaffolds beispielsweise können transplantierten Zellen Überlebensvorteile verschaffen, ihnen Orientierung bieten und lokale Freisetzung von Wachstumsfaktoren ermöglichen. Parallel dazu helfen moderne Methoden wie Einzelzell-RNA-Sequenzierung (single-cell RNA-seq), proteomische Analysen und differenzielle Methylierungsprofile, den Differenzierungsstatus und die funktionelle Reife der Zellen auf molekularer Ebene zu charakterisieren.
Elektrophysiologische Assays (z. B. Multi-Electrode-Arrays, Patch‑Clamp) sind unerlässlich, um ionische Eigenschaften, Aktionspotential-Muster und synaptische Übertragung nachzuweisen. Ebenso wichtig sind immunologische Tests zur Abschätzung der Gefahr von Alloreaktionen und zur Erarbeitung von Immuntoleranzstrategien, falls allogene Produkte zum Einsatz kommen sollen.
Bei der klinischen Studienplanung müssen standardisierte Endpunkte definiert werden: funktionelle Verbesserungen bei Kognition oder motorischen Aufgaben, bildgebende Marker für Integration (z. B. fMRT, PET) und robuste Sicherheitsparameter. Zudem sind langfristige Nachbeobachtungen notwendig, um mögliche späte Nebenwirkungen oder Umwandlungen früh zu erkennen.
Fachliche Einordnung und wissenschaftliche Chancen
Die Verwendung dentaler Stammzellen für neurologische Indikationen bietet mehrere wissenschaftliche Vorteile: eine vergleichsweise einfache Entnahme, das Potenzial zur Generierung spezifischer neuronaler Subtypen (z. B. GABAerger Inhibitoren), und die Möglichkeit, personalisierte Therapien zu entwickeln. Vergleichsstudien zwischen dentalen Stammzellen, mesenchymalen Stammzellen aus Knochenmark und induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) sind notwendig, um Wirksamkeit, Sicherheit und Praktikabilität zu bewerten.
Auch die translationale Forschung profitiert von Plattformen, die Zellproduktion nach guten Herstellungspraxen (GMP) ermöglichen. Klinische Testreihen werden ohne standardisierte GMP‑Protokolle nur schwer auf breiter Basis realisierbar sein. Die Herausforderung besteht darin, skalierbare, reproduzierbare und sichere Herstellungsverfahren zu etablieren, die regulatorischen Standards genügen.
Ein weiterer attraktiver Forschungszweig ist die Kombination aus zellbasierter Therapie und neu neuromodulatorischen Strategien wie Tiefe Hirnstimulation (THS) oder nicht-invasiver transkranieller Stimulation. Solche Kombinationen könnten Synergien erzeugen: transplantierte hemmende Neurone könnten lokale Erregungszustände normalisieren, während Stimulationsverfahren die Netzwerkstabilität zusätzlich beeinflussen.
Expertenkommentar
Dr. Elena Navarro, eine fiktive Neurowissenschaftlerin und Wissenschaftskommunikatorin, kommentiert: „Die Eleganz der Nutzung entsorgter Zähne liegt in ihrer Einfachheit: eine leicht verfügbare, relativ risikoarme Stammzellquelle, die große ethische Hürden umgeht. Die Herausforderung besteht jetzt darin, die vielversprechenden Ergebnisse aus Nagetiermodellen in verlässliche und sichere Protokolle für den Menschen zu übersetzen. Gelingt das, könnten Zahnpulpastammzellen ein wichtiges Instrumentarium der regenerativen Medizin ergänzen.“
Mit zunehmendem Fortschritt der Forschung könnten Zahnpulpastammzellen vom Laborphänomen zu einem praktikablen Weg werden, neuronale Schaltkreise zu reparieren. Bis dahin bleibt jedoch vieles zu klären: standardisierte Gewinnungs- und Aufarbeitungsprozesse, präklinische Sicherheitsdaten, geeignete Qualitätskontrollen, regulatorische Zulassungswege und ethische Rahmenbedingungen für die Nutzung von Spendergewebe.
Insgesamt verdeutlicht diese Entwicklung eine breitere Lektion der Biomedizin: Manche der wertvollsten Ressourcen liegen im Alltäglichen verborgen. Die pragmatische Nutzung bereits entnommener Gewebe kann Forschung beschleunigen, Entwicklungskosten senken und neue therapeutische Optionen eröffnen — vorausgesetzt, man adressiert sorgfältig die wissenschaftlichen, regulatorischen und ethischen Fragestellungen.
Quelle: smarti
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