8 Minuten
Das Älterwerden fühlt sich selten wie ein einziger plötzlicher Moment an — doch neue molekulare Forschung deutet darauf hin, dass sich unser biologisches Alter an zwei klaren Zeitpunkten sprunghaft nach vorne verschiebt: etwa in der Mitte der 40er Jahre und erneut Anfang der 60er. Diese abrupten Veränderungen treten in Dutzenden biologischer Systeme auf, von Blutproteinen über Stoffwechselmoleküle bis hin zum Mikrobiom, und können helfen zu erklären, warum das Krankheitsrisiko in bestimmten Altersabschnitten plötzlich ansteigt. Solche Befunde sind relevant für Themen wie biologische Alterung, Biomarker, Gesundheitsvorsorge und Strategien zur Verlängerung der Healthspan.
Was die Studie gemessen hat und warum das wichtig ist
Forscher unter der Leitung des Genetikers Michael Snyder von der Stanford University analysierten wiederholt entnommene biologische Proben von 108 erwachsenen Freiwilligen, die über mehrere Jahre hinweg gesammelt wurden. Statt nur einer Momentaufnahme pro Person lieferte jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer eine Vielzahl von Proben (im Durchschnitt 47 Proben über etwa 626 Tage), sodass ein dichtes Zeitreihen-Datenset mit molekularen Messungen entstand. Dieser longitudinale Ansatz — kombiniert mit Multi-Omics-Analysen — ermöglicht, dynamische Veränderungen zu erfassen, die in klassischen Querschnittsstudien verborgen bleiben können.
Das Team verfolgte eine bislang beispiellose Vielfalt an Biomolekülen: RNA-Transkripte (Transkriptom), Proteine (Proteom), Lipide (Lipidom), Metaboliten und Mikroorganismen aus verschiedenen Körperstellen (darmassoziiertes Mikrobiom sowie Proben von Haut, Nase und Mund), insgesamt rund 135.239 unterschiedliche biologische Merkmale. Nach der Verarbeitung von mehr als 246 Milliarden Datenpunkten zeigte sich ein auffälliges Muster: Die Häufigkeit vieler Moleküle veränderte sich nicht gleichmäßig mit dem Kalenderalter, sondern sprang an zwei klaren Altersstufen. Diese Ergebnisse stützen sich auf moderne Messverfahren wie Massenspektrometrie, Sequenzierung und gezielte Metabolomik sowie auf umfassende Bioinformatik zur Mustererkennung.

Zwei deutliche molekulare "Sprünge"
Ungefähr 81 % der gemessenen Moleküle zeigten bei mindestens einer der identifizierten Phasen signifikante Veränderungen. Der erste Anstieg konzentrierte sich um Mitte 40, der zweite um Anfang 60. Obwohl sich beide Wellen in überlappenden biologischen Systemen manifestierten, betrafen sie nicht exakt dieselben Komponenten und Signalwege. Diese stufenartigen Veränderungen weisen auf eine nicht-lineare biologische Alterung hin, bei der multiple Prozesse synchron oder nacheinander umgeschaltet werden.
- Peak Mitte 40: Die Veränderungen konzentrierten sich auf Lipidstoffwechsel (Lipidstoffwechsel und Lipidprofile), die Verarbeitung von Koffein und Alkohol, molekulare Signale mit Bezug zum Herz-Kreislauf-System sowie erste Anzeichen von Haut- und Muskelveränderungen (z. B. Proteinmarker für Muskelfunktion und Hautintegrität).
- Peak Anfang 60: Die Verschiebungen betrafen erneut Kohlenhydrat- und Koffein-Metabolismus, breiter gefächerte kardiovaskuläre Signale, Parameter der Immunregulation (Immunoseneszenz, entzündliche Zytokine), Nierenfunktion und weitere Indikatoren für Haut- und Muskelveränderungen.
Solche nicht-linearen Muster spiegeln Beobachtungen in anderen Arten wider: Stufenweises Altern wurde bereits bei Fruchtfliegen (Drosophila), Mäusen und Zebrafischen berichtet. Frühere humanbiologische Studien hatten zudem Hinweise auf abrupt auftretende Übergänge für bestimmte Biomarker gefunden, doch die hier vorgestellte Studie kombiniert ungewöhnliche Messdichte mit Multi-Omics-Reichweite, wodurch robuste Signale über viele molekulare Ebenen hinweg erkennbar wurden. Die Ergebnisse eröffnen neue Perspektiven für die Erforschung von Alterungsmechanismen wie inflammaging, mitochondrialer Dysfunktion, Hormonveränderungen und epigenetischem Drift.
Männer, Frauen und die Frage der Menopause
Eine offensichtliche Hypothese war, dass der Sprung in der Mitte des Lebens durch Menopause oder Perimenopause bei Frauen verursacht werden könnte. Die Forschenden untersuchten daher Geschlechtsunterschiede systematisch und stellten fest, dass auch Männer ähnliche molekulare Veränderungen Mitte 40 aufwiesen. Das deutet darauf hin, dass die Menopause allein das Muster nicht erklären kann. Dennoch können reproduktive Alterungsprozesse bei Frauen zu einem Teil der beobachteten Veränderungen beitragen; die Studie legt nahe, dass weitere gemeinsame Mechanismen — etwa hormonelle Modulation, veränderte Stoffwechselprofile oder accumulierter physiologischer Stress — bei beiden Geschlechtern wirksam sind.
Wie Xiaotao Shen, die leitende Metabolomikerin der Studie, anmerkt: „Obwohl die reproduktive Alterung zu den bei Frauen beobachteten Veränderungen beitragen kann, gibt es wahrscheinlich andere, bedeutendere Faktoren, die diese Veränderungen bei Männern und Frauen beeinflussen.“ Die Identifizierung dieser Faktoren — genetische Prädispositionen, Umweltexpositionen (z. B. Schadstoffe, Rauchen), Lebensstiländerungen (Ernährung, körperliche Aktivität), psychosozialer Stress oder kumulative physiologische Belastungen — ist eine Priorität für künftige Forschung, um Ursachen und kausale Zusammenhänge besser zu verstehen.
Folgen für Krankheitsrisiko und gesundes Altern
Klinisch sind die Befunde bedeutsam, weil einige Erkrankungen — beispielsweise Alzheimer-Krankheit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Niereninsuffizienz — nach bestimmten Altersgrenzen einen sprunghaften Anstieg in der Inzidenz zeigen, statt eines gleichmäßigen Anstiegs. Wenn sich zahlreiche molekulare Systeme in der Mitte des Lebens und erneut um das 60. Lebensjahr herum neu konfigurieren, könnte das erklären, warum Krankheitsrisiken in diesen Zeitfenstern zunehmen. Aus dieser Perspektive entstehen gezielte Zeitfenster für Prävention, Screening und frühzeitige Interventionen, die auf molekularen Signaturen und veränderten Biomarkern basieren.
Praktisch bedeutet das: Medizinische Check-ups, metabolische Screenings, kardiovaskuläre Risikobewertungen und Immunmetriken könnten in midlife- und near-60-Zeitfenstern besonders aussagekräftig sein. Interventionsstrategien — von Lebensstilmaßnahmen wie spezifischer Ernährung, Gewichtsmanagement und körperlicher Aktivität bis hin zu pharmakologischen Ansätzen, gezielter Re-Homöostase des Mikrobioms oder immunmodulatorischen Therapien — könnten ideal zeitlich abgestimmt werden, um die neurale, metabolische und kardiovaskuläre Resilienz zu stärken und das Auftreten altersassoziierter Erkrankungen zu verzögern.
Die Studie behauptet jedoch nicht, dass ein einzelnes Ereignis über Nacht rasches Altern verursacht. Vielmehr beschreibt sie koordinierte Verschiebungen über viele molekulare Systeme hinweg, die kumulativ wie diskrete Sprünge in der biologischen Alterungskurve erscheinen. Diese kollektiven Veränderungen könnten das Resultat von langsamen, akkumulierten Prozessen sein, die an bestimmten Knotenpunkten in ein neues Gleichgewicht übergehen — ein Konzept, das auch in Systembiologie und theoretischer Biologie als „kritischer Übergang“ diskutiert wird.

Beschränkungen und der Weg nach vorn
Das Datenset ist ungewöhnlich reich an wiederholten Messungen und bietet daher wertvolle Einblicke in zeitliche Dynamiken, doch die Kohorte war in ihrer Größe moderat (108 Personen) und auf Altersgruppen zwischen 25 und 70 Jahren beschränkt. Damit bleiben Fragen offen, ob ähnliche Übergänge früher im Leben auftreten (z. B. in den 30ern) oder sich bei sehr alten Menschen nochmals anders darstellen. Ebenfalls ungeklärt ist, wie sich die beobachteten Muster zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, sozioökonomischen Schichten und Lebensstiltypen unterscheiden — Faktoren, die in der Epidemiologie und in Bevölkerungsstudien oft starke Effekte zeigen.
Weitere Einschränkungen betreffen mögliche Confounder und die Generalisierbarkeit: Die Probegrößen innerhalb bestimmter Untergruppen (z. B. unterschiedliche ethnische Herkunft, komorbide Erkrankungen) waren klein, und trotz statistischer Anpassungen können unerkannte Störfaktoren verbleiben. Technische Aspekte wie Batch-Effekte in Omics-Messungen, Unterschiede in Probenverarbeitung oder zeitliche Sampling-Intervalle erfordern ebenfalls kritische Bewertung. Deshalb betont die Arbeit die Notwendigkeit größerer, diverserer longitudinaler Studien, die Genetik, Umwelt, Verhalten und klinische Endpunkte integrieren, um zu kartieren, wie molekulare Verschiebungen mit Krankheit und Resilienz verknüpft sind und welche Interventionspunkte tatsächlich wirksam sind.
Die Forschung, veröffentlicht in Nature Aging im Jahr 2024, legt damit den Grundstein für größere prospektive Kohorten und multi-zentrische Studien. Solche Studien sollten Multi-Omics-Daten (Genom, Epigenom, Transkriptom, Proteom, Metabolom, Lipidom), detaillierte Mikrobiom-Profile, klinische Messungen und umweltbezogene Expositionsdaten verknüpfen. Durch die Integration von Kausalmodellen, Mendelscher Randomisierung und experimentellen Interventionen könnte man Mechanismen identifizieren, die diese Sprünge auslösen oder modulieren.
Expertinnen- und Experteneinschätzung
„Koordinierte molekulare Wendepunkte beim Menschen zu sehen, ist ein wichtiger Schritt, um präventive Versorgung zeitlich präziser zu planen“, sagt Dr. Elena Morales, Biogerontologin und Wissenschaftskommunikatorin. „Wenn die Lebensmitte eine systemische Neukalibrierung darstellt, könnten Ärzte und Gesundheitsfachkräfte künftig Lebensstil-, metabolische oder immunologische Interventionen so timen, dass sie mit diesen Fenstern zusammenfallen und damit möglicherweise das spätere Krankheitsrisiko senken.“
In der Gesamtschau verschiebt diese Arbeit das Verständnis von Altern: Nicht nur als gradueller Abbau, sondern als Abfolge biologischer Übergänge, die in bestimmten Lebensabschnitten auftreten. Das hat Konsequenzen für Forschung, klinische Praxis und öffentliche Gesundheitsstrategien. Die Herausforderung besteht nun darin, zu klären, welche spezifischen molekularen Signale als robuste, klinisch nutzbare Biomarker dienen können, wie Interventionsfenster definiert werden sollten und ob einzelne Maßnahmen (z. B. Intensivierung körperlicher Aktivität, Ernährungstherapie, gezielte pharmakologische Maßnahmen) die beobachteten Sprünge abschwächen oder zeitlich verzögern können.
Quelle: sciencealert
Kommentar hinterlassen