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Das Tempo des Alterns: Neue molekulare Erkenntnisse
Über Jahrzehnte war die gängige Annahme in der Wissenschaft wie in der Öffentlichkeit, dass das Altern des Menschen ein gleichmäßiger, allmählicher Prozess ist. Eine Forschungsgruppe unter Leitung von Genetikern der Stanford University stellt diese Sichtweise jedoch in Frage: Neueste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass sich das menschliche Altern zu zwei entscheidenden Lebensphasen beschleunigt – in den mittleren 40ern und frühen 60ern. Diese Entdeckung ermöglicht ein tieferes Verständnis der biologischen Grundlagen altersbedingter Krankheiten und könnte weitreichende Folgen für Prävention, Lebensverlängerung und die Altersforschung haben.
Wissenschaftlicher Hintergrund: Vom linearen zum stufenweisen Altern
Altern auf molekularer Ebene ist ein Zusammenspiel vielschichtiger biologischer Veränderungen. Frühere Studien an Tiermodellen wie Ratten, Fruchtfliegen und Zebrafischen hatten bereits angedeutet, dass Altern nicht kontinuierlich, sondern in sprunghaften, stufenförmigen Veränderungen ablaufen kann. Aufbauend darauf untersuchte das Stanford-Team, ob sich solche Muster auch beim Menschen feststellen lassen, indem sie die molekulare Landschaft über die Zeit hinweg analysierten.
Die Studie: Langzeitbeobachtung biomolekularer Veränderungen
Zur Erforschung der Biologie des Alterns begleiteten die Wissenschaftler 108 gesunde Erwachsene im Alter zwischen 25 und 70 Jahren über mehrere Jahre. Die Teilnehmenden lieferten regelmäßig biologische Proben – darunter Blut sowie Mikrobiom-Abstriche von Darm, Haut, Nasenschleimhaut und Mundraum. Insgesamt analysierten die Forscher über 135.000 verschiedene molekulare Merkmale – darunter RNA, Proteine und Lipide. Jede Person trug im Schnitt 47 Proben über etwa 626 Tage bei, was zu einem Datenvolumen von über 246 Milliarden Einzelwerten führte. Durch dieses hochaufgelöste Datenset konnten die Wissenschaftler sowohl subtile als auch auffällige biomolekulare Veränderungen im Zeitverlauf feststellen.
Wichtige Erkenntnisse: Zwei markante Wendepunkte
Die Analyse zeigte zwei deutliche Sprünge im Verlauf des Alterns: Der erste liegt um das 44. Lebensjahr, der zweite folgt um das 60. Lebensjahr. Diese Umschwünge betrafen nicht nur einzelne Molekülgruppen – rund 81% aller untersuchten Moleküle wiesen während einer oder beider Phasen signifikante Veränderungen auf.
Die Veränderungen in den mittleren 40ern betrafen vor allem Moleküle, die am Fettstoffwechsel, Koffein- und Alkoholabbau beteiligt sind, aber auch Biomarker für Herz-Kreislauf-Gesundheit sowie Haut- und Muskelveränderungen. In den frühen 60ern zeigten sich wiederum deutliche Verschiebungen im Kohlenhydratstoffwechsel, der Immunregulation, Nierenfunktion und erneut bei Molekülen, die mit Haut und Muskulatur in Verbindung stehen.

Bedeutung für altersbedingte Krankheiten und Gesundheit
Diese molekularen Wendepunkte spiegeln klinische Beobachtungen im Zusammenhang mit altersbedingten Krankheiten wider. So steigt beispielsweise das Risiko für Erkrankungen wie Alzheimer oder Herz-Kreislauf-Leiden nicht kontinuierlich, sondern nimmt nach diesen Schlüsselpunkten sprunghaft zu. Dieses neue Verständnis könnte die Prävention, Diagnose und Behandlung chronischer Krankheiten im Alter grundlegend verändern.
Zudem untersuchte das Forscherteam, ob Wechseljahre oder die Übergangsphase davor (Perimenopause) bei Frauen verantwortlich für diese Veränderungen sind. Die Daten zeigten jedoch, dass vergleichbare molekulare Umbrüche sowohl bei Männern als auch bei Frauen auftreten, sodass umfassendere, nicht geschlechtsspezifische Faktoren relevanter zu sein scheinen.
Expertenmeinungen
"Wir verändern uns nicht nur allmählich – es gibt wirklich dramatische Veränderungen," erklärt Genetiker Michael Snyder von Stanford. "Sowohl in den mittleren 40ern als auch zu Beginn der 60er erleben wir diesen Wandel, und dies trifft auf alle untersuchten Molekülklassen zu."
Der Studienhauptautor Xiaotao Shen, heute an der Nanyang Technological University in Singapur, betont: "Diese Faktoren gezielt zu identifizieren und weiter zu erforschen, sollte ein Schwerpunkt künftiger Studien sein."

Zukünftige Forschungsansätze und Einschränkungen
Obwohl diese Ergebnisse ein neues Modell für das Verständnis des menschlichen Alterns liefern, verweisen die Wissenschaftler auf Grenzen der Studie – besonders hinsichtlich Teilnehmerzahl und demografischer Vielfalt. Die Kohorte umfasste wenig mehr als hundert Personen mit relativ kurzer Beobachtungszeit. Um die Komplexität des Alterns weiter zu entschlüsseln und die Allgemeingültigkeit dieser Wendepunkte zu bestätigen, sind Studien mit größeren, vielfältigeren Teilnehmergruppen und noch detaillierteren molekularen Analysen notwendig.
Fazit
Diese bahnbrechende Forschung wirft ein neues Licht auf das Verständnis des menschlichen Alterns und macht deutlich, dass entscheidende molekulare Veränderungen in zwei spezifischen Lebensphasen erfolgen. Dieses Wissen eröffnet gezieltere Ansätze für die Altersmedizin und Prävention altersbedingter Krankheiten. Langfristig könnten solche Erkenntnisse neue, individuell zugeschnittene Strategien zur Förderung gesunder Langlebigkeit ermöglichen und so das Leben vieler Menschen weltweit verbessern.
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