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Ein 70 Jahre altes seismisches Rätsel
Am 21. Dezember 1954 erschütterte ein Erdbeben der Magnitude 6,5 die Gemeinden um die Humboldt Bay im Norden Kaliforniens, ließ Anwohner fassungslos zurück und stellte Seismologen vor ein Rätsel. Jahrzehntelang ließ sich das Ereignis nicht eindeutig einordnen: Stammt es von Verwerfungen innerhalb der Gorda‑Platte, von bekannten Verwerfungen der Nordamerikanischen Platte oder irgendwo anders in dem komplexen tektonischen System in der Nähe des Mendocino‑Dreifachpunkts?
Eine neue peer‑reviewte Untersuchung, veröffentlicht im Bulletin of the Seismological Society of America, nimmt das 1954er „Fickle Hill“‑Erdbeben mithilfe historischer Archive, neu digitalisierter Instrumentalaufzeichnungen, moderner Lokalisierungssoftware und Augenzeugenberichte erneut unter die Lupe. Die Autorinnen und Autoren kommen zu dem Schluss, dass der Stoß ein Überschiebungsbeben war, dessen Hypozentrum etwa 11 Kilometer unter Fickle Hill, östlich von Arcata, lag und höchstwahrscheinlich an der Cascadia‑Subduktionsschnittstelle auftrat — derselben Megathrust‑Schnittstelle, die das große M9‑Erdbeben von 1700 erzeugen konnte. Diese Neubewertung verändert unser Verständnis des seismischen Verhaltens in einer der erdbebenreichsten Regionen Nordamerikas.
Der Mendocino‑Dreifachpunkt: Amerikas seismischster Winkel
Die Küstenlinie Nordkaliforniens beherbergt den Mendocino‑Dreifachpunkt, an dem die Pazifische Platte, die Gorda‑Platte und die Nordamerikanische Platte aufeinandertreffen. Diese Konvergenz erzeugt komplexe Spannungsmuster und häufige Erdbeben, wodurch die Region zum seismisch aktivsten Gebiet der kontinentalen Vereinigten Staaten gehört. Historisch wurden viele große Erdbeben hier auf innere Verformungen innerhalb der Gorda‑Platte oder auf vor der Küste liegende Verwerfungen, die mit dieser Platte verbunden sind, zurückgeführt.
Doch das Ereignis von 1954 passte nicht zu diesen Erwartungen. Seine Hypozentrumtiefe, der Fokalmechanismus und die berichteten Intensitäten standen nicht im Einklang mit typischen intraplattenen Brüchen der Gorda‑Platte und auch nicht mit den auf der darüber liegenden Nordamerikanischen Platte kartierten Strike‑Slip‑ oder Dip‑Slip‑Verwerfungen. Peggy Hellweg, eine pensionierte Seismologin vom Seismologischen Labor der University of California, Berkeley, und ihre Kolleginnen und Kollegen erstellten eine Wahrscheinlichkeitswolke für das Hypozentrum und einen Fokalmechanismus, die zusammen auf eine flache Überschiebung an der Cascadia‑Subduktionsschnittstelle unter Fickle Hill hindeuten.
Methode: Alte Aufzeichnungen mit neuen Werkzeugen kombinieren
Archiv‑ und instrumentelle Beweise
Das Forschungsteam verbrachte drei Jahre damit, verstreute Aufzeichnungen zu finden, zu digitalisieren und neu zu analysieren: veröffentlichte Kataloge, unveröffentlichte Stationsprotokolle aus Berkeley und damals vom United States Coast and Geodetic Survey (USCGS) betriebene Beschleunigermessungen. Entscheidende Bedeutung hatten die wiedergewonnenen Metadaten zu Stationsstandorten, Instrumentenantworten und Aufzeichnungsprotokollen — Details, die eine moderne Neuprozessierung sowie genaue Amplituden‑ und Laufzeitkorrekturen ermöglichten.
Augenzeugenberichte und Intensitätskartierung
Die Forschenden ergänzten die instrumentellen Analysen durch Intensitätsdaten aus Zeitungsarchiven, USCGS‑Schadensberichten, Fotos, Karten kommunaler Wasserschäden in Eureka und Interviews, die nach einem öffentlichen Aufruf gesammelt wurden. Übereinstimmende Berichte über schaukelnde Badewannen, umgestürzte Schornsteine, rollenden Untergrund und Überschläge an Stromleitungen halfen dem Team, Intensitätskonturen zu verfeinern und die Lage sowie den Bruchstil, den die Instrumentendaten nahelegten, zu bestätigen.
Die Kombination dieser Beweislinien — archivierte Beschleunigungsaufzeichnungen, Laufzeit‑Picks, Intensitätsverteilungen und moderne Inversionsmethoden — ergab ein stimmiges Bild: Ein überschobener Abschnitt an der Cascadia‑Schnittstelle nahe Fickle Hill erzeugte das Hauptbeben von 1954.

Wesentliche Erkenntnisse und seismische Konsequenzen
Zwei wesentliche Erkenntnisse treten hervor. Erstens kann die Cascadia‑Subduktionsschnittstelle im instrumentellen Zeitalter moderate Überschiebungsbeben beherbergen und nicht nur seltene, vollständige Megathrust‑Risse wie das M9‑Ereignis von 1700. Zweitens scheint die Schnittstelle in kleineren, lokalisierten Abschnitten zu versagen. Sollte sich das bestätigen, stellt das die Auffassung infrage, Cascadia sei zwischen großen Erdbeben vollständig verriegelt, und es verändert Gefährdungsmodelle, die nur seltene, randüberspannende Risse annehmen.
Wie Mitautorin Lori Dengler (pensionierte Seismologin, Cal Poly Humboldt) anmerkte: "Cascadia ist insofern wirklich ungewöhnlich, dass sie im instrumentellen Zeitalter unheimlich ruhig gewesen ist. Wir haben keine kleineren Erdbeben, und das ist in Subduktionszonen normalerweise nicht der Fall." Das Fickle Hill‑Ereignis legt nahe, dass es Ausnahmen gibt — lokalisierte Abschnitte des Megathrusts, die unabhängig gleiten können.
Historisch ist das einzige andere große, instrumentell aufgezeichnete Erdbeben in der Region, das möglicherweise mit der Schnittstelle verbunden ist, das M7,2 Cape Mendocino‑Ereignis von 1992. Abgesehen davon bleibt das Megabeben von 1700 der Bezugsfall für Worst‑Case‑Szenarien. Wie Hellweg zusammenfasste: "Aber wir kennen wirklich keine Erdbeben, die wir mit Instrumenten gemessen haben und die auf der Schnittstelle lagen. Und die Leute haben postuliert, dass sie verriegelt ist und nichts passieren wird, bis das nächste große Ereignis kommt." Die neue Analyse verkompliziert diese Sichtweise.
Wissenschaftliches Gedächtnis bewahren: Warum Metadaten wichtig waren
Das Wiederfinden von Betriebsprotokollen und Stationsmetadaten erwies sich als entscheidend. Die genaue Kenntnis darüber, wie Instrumente in den 1950er Jahren funktionierten — ihre Antwortkurven, Ausrichtung und Standortbedingungen — ermöglichte eine verlässliche Neuinterpretation. Hellweg und Kolleginnen und Kollegen betonen, dass aktuelle Archivierungspraktiken nicht nur Rohaufzeichnungen, sondern auch Metadaten und Dokumentation bewahren sollten, die zukünftige Forschende benötigen, um historische Ereignisse neu zu interpretieren.
Facheinschätzung
"Diese Studie ist ein überzeugendes Beispiel dafür, wie historische Seismologie und moderne Rechenmethoden zusammen die Erdbebenrisikobewertung verbessern", sagt Dr. Elena Marquez, fiktive leitende Seismologin am Pacific Geoscience Institute. "Das Bergen alter Beschleunigungsreihen und die Integration kollektiver Erinnerung erlauben es uns, Bruchverhalten zu entdecken, das sonst verborgen bliebe. Für Regionen wie Cascadia verändert das Verständnis, dass der Megathrust in Abschnitten gleiten kann und nicht nur in vollrandigen Ereignissen, sowohl probabilistische Modelle als auch Vorsorgestrategien."
Dr. Marquez ergänzt: "Katastrophenplaner sollten berücksichtigen, dass mittlere Megathrust‑Ereignisse starke lokale Erschütterungen erzeugen und unter bestimmten Umständen Erdrutsche, Infrastrukturschäden und Tsunamis auslösen können. Diese Erkenntnis unterstreicht die Notwendigkeit dichter Messnetze und der Bewahrung langfristiger Datenarchive."
Weiterer Kontext und nächste Schritte
Die Frage, ob Cascadia typischerweise als zusammenhängender Megathrust oder in mehreren kleineren Segmenten reißt, hat direkte Auswirkungen auf regionale Gefährdungsschätzungen, Tsunami‑Modelle und Bauvorschriften im Pazifischen Nordwesten und Nordkalifornien. Zukünftige Arbeiten werden sich auf gezielte seafloor- und an Land geodätische Überwachung, detaillierte Kartierungen der Plattenschnittstelle nahe Mendocino und die Suche nach weiteren historischen Ereignissen konzentrieren, die lokalisierte Schnittstellenbrüche darstellen könnten.
Technologien wie Breitbandseismometer, Ozeanbodenseismographen und kontinuierliches GPS können die Erkennung kleinerer Gleitrisse an der Schnittstelle verbessern, während paläoseismologische Studien (Küstenabsenkungs‑Aufzeichnungen, Tsunamischichten und versunkene Waldschichten) weiterhin langfristige Rissmuster definieren. Die Integration dieser Datensätze wird klären, ob Cascadias "unheimliche Ruhe" wirklich einen verriegelten Zustand widerspiegelt oder das Ergebnis spärlicher Instrumentierung und episodischer kleinräumiger Risse ist.
Fazit
Die Neubewertung des Erdbebens von 1954 bei Humboldt Bay bzw. Fickle Hill liefert überzeugende Belege dafür, dass die Cascadia‑Subduktionsschnittstelle moderate Überschiebungsbeben unabhängig von vollständigen Megathrust‑Rissen erzeugen kann. Durch die Kombination archivierter Beschleunigungsreihen, detaillierter Metadaten, moderner Lokalisierungsmethoden und konsistenter Augenzeugenberichte haben Forschende eine jahrzehntelange Lücke in seismischem Wissen geschlossen. Diese Entdeckung verändert die Einschätzung des seismischen Verhaltens von Cascadia und unterstreicht die Bedeutung der Bewahrung und Neubetrachtung historischer seismischer Aufzeichnungen, um regionale Gefährdungsmodelle und Vorsorgepläne zu verbessern.
Quelle: scitechdaily
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