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Eine planetare Grenze im Rückzug
Die menschliche Aktivität hat den Großteil der terrestrischen Erdoberfläche über lokal definierte sichere Grenzen hinausgedrängt für das, was Forscher heute als "funktionale Biosphärenintegrität" bezeichnen. Ein internationales Team unter Leitung des Potsdam‑Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), mit Kooperationspartnern der BOKU Universität Wien, hat die planetare Grenze für diese Funktion räumlich und historisch fein aufgelöst kartiert. Die in One Earth veröffentlichte Studie kommt zu dem Schluss, dass rund 60 % der Landfläche der Erde inzwischen außerhalb ihres lokal definierten sicheren Handlungsraums liegen und 38 % sich in einem Hochrisikozustand befinden. Diese Veränderungen spiegeln Jahrhunderte des Landnutzungswandels wider, am intensivsten in Europa, Asien und Nordamerika.
Menschliche Gesellschaften sind auf die Biosphäre für Nahrung, Fasern, Brennstoffe und wachsende Ambitionen zur Nutzung von Biomasse für Klimaschutz angewiesen. Gerade diese Nachfrage – Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Nutzung von Rückständen und der Ausbau von Biomasseenergie – verringert aber die Fähigkeit der Vegetation, die Kohlenstoff-, Wasser‑ und Stickstoffkreisläufe aufrechtzuerhalten, die stabile Ökosysteme stützen.
Was ist funktionale Biosphärenintegrität und warum sie wichtig ist
Funktionale Biosphärenintegrität beschreibt die Fähigkeit des Pflanzenlebens und der damit verbundenen Ökosysteme, durch Photosynthese gewonnene Energie zu erfassen und umzuleiten, um die materielle Zirkulation – Kohlenstoff, Wasser und Stickstoff – aufrechtzuerhalten, die die Prozesse im Erdsystem stabilisiert. Sie ist ein Kernelement des Planetary Boundaries‑Rahmens. Wenn Vegetation und intakte Ökosystemstruktur diese Flüsse nicht mehr unterstützen können, werden Ökosysteme fragiler: Kohlenstoffsenken schwächen sich, Wasserhaushalte verschieben sich, Nährstoffkreisläufe geraten aus dem Gleichgewicht und die Biodiversität nimmt ab.
Das Update 2023 des Planetary Boundaries‑Rahmens betonte photosynthesegetriebene Energieflüsse als zentral für planetare Stabilität. Die neue, vom PIK geleitete Studie operationalisiert diese Erkenntnis, indem sie zwei sich ergänzende Indikatoren räumlich und zeitlich misst: den Anteil der natürlichen Biomasseproduktivität, der durch Menschen genutzt wird (durch Ernte, Holzgewinnung, Rückstände und Landumwandlung), und einen separaten Risikoindikator für Ökosysteminstabilität, der strukturelle Veränderungen der Vegetation und Ungleichgewichte in Wasser‑, Kohlenstoff‑ und Stickstoffkreisläufen erfasst.
Methoden: hochauflösende, langfristige Modellierung
Das Team verwendete das globale Biosphärenmodell LPJmL, um tägliche Wasser‑, Kohlenstoff‑ und Stickstoffflüsse weltweit in etwa halbgradiger räumlicher Auflösung zu simulieren. LPJmL integriert Klima‑, Landbedeckungs‑ und anthropogene Landnutzungsdaten, um jährliche Bedingungen von 1600 bis in die Gegenwart zu rekonstruieren. Durch die Kombination modellierter photosynthetischer Produktivität mit historischen Mustern von Ernte und Landumwandlung und den Vergleich der Ergebnisse mit bekannten ökologischen Schwellenwerten aus der Fachliteratur ordneten die Forschenden jede Rasterzelle einem von drei Status zu: Safe Operating Space, Zone of Increasing Risk oder High Risk Zone.

Two indicators, one picture of stress
- Menschliche Aneignung von Biomasseproduktivität: Dieser Indikator quantifiziert, welcher Anteil der natürlichen vegetativen Produktivität für menschliche Zwecke umgeleitet oder durch Nutzung und Versiegelung verloren geht. Große Anteile bedeuten, dass weniger ökologische Energie zur Verfügung steht, um native Prozesse zu stützen.
- Risiko der Ökosystemdestabilisierung: Ein multivariabler Indikator, der strukturelle Veränderungen der Vegetation und systemische Ungleichgewichte in Wasser‑, Kohlenstoff‑ und Stickstoffkreisläufen erfasst – frühe Signale dafür, dass Ökosysteme sich Tipping‑Points nähern.
Die Kombination dieser Indikatoren ergibt eine räumlich explizite Karte, die zeigt, wo die funktionalen Grenzen der Biosphäre überschritten sind und wo die Risiken zunehmen.
Historische Entwicklung und regionale Muster
Modellsimulationen weisen darauf hin, dass die ersten substantiellen Überschreitungen lokaler Biosphären‑Grenzen bereits in den Mittelbreiten um 1600 begannen. Bis 1900 lagen etwa 37 % der Landfläche außerhalb lokal definierter sicherer Grenzen und 14 % waren hochriskant. Diese Anteile sind seitdem auf 60 % bzw. 38 % gewachsen. Diese Zeitreihe zeigt, dass intensive Landnutzung und Ökosystemveränderungen der Ära vorausgingen, in der anthropogenes Klimaerwärmen zum dominierenden planetaren Stressfaktor wurde; der Landnutzungswandel prägt die Stabilität des Erdsystems seit Langem.
Räumlich gesehen treten die stärksten Überschreitungen in Regionen mit langer Geschichte intensiver Landwirtschaft und Landumwandlung auf – Europa, große Teile Asiens und weite Teile Nordamerikas. Auch in tropischen Regionen nimmt der Druck zu, wo die Ausweitung von Ackerland, Weideflächen und Plantagen die native Produktivität und Integrität der Ökosysteme reduziert hat.
Folgen für Klimapolitik, naturbasierte Lösungen und Bioenergie
Die Studie macht ein zentrales Zielkonflikt deutlich: Vorschläge, Biomasse für Energie oder CO2‑Entnahme in großem Umfang hochzufahren (zum Beispiel Bioenergie mit CO2‑Abscheidung und -Speicherung – BECCS), können die Funktionen der Biosphäre, die das Klima regulieren, weiter verschlechtern, wenn sie als großflächige Monokulturen umgesetzt werden oder verbleibende natürliche Kohlenstoffsenken reduzieren. Wie Johan Rockström, Direktor des PIK und Koautor, argumentiert, müssen Politikentscheidende den Schutz der Biosphäre und Klimaschutz als eine einzige, integrierte Herausforderung behandeln. Wiederherstellung und Erhalt natürlicher Vegetation, Verringerung übermäßiger Biomasseanforderungen und Priorisierung von Landnutzungspraktiken, die photosynthetische Energieflüsse erhalten oder verbessern, sind wesentlich.
Technologien und politische Maßnahmen, die den Druck auf die Biosphäre mindern könnten, umfassen regenerative Landwirtschaft, Agroforstwirtschaft, verbesserte Ernteeffizienz, das Stoppen der Umwandlung nativer Ökosysteme und die Priorisierung klimaeffektiver Strategien mit geringem Biomassebedarf, wo möglich. Präzise, hochauflösende Modelle wie LPJmL und Fortschritte in der Satellitenfernerkundung sind entscheidend, um Hotspots mit hohem Risiko zu identifizieren und Fortschritte über die Zeit zu verfolgen.
Expert Insight
Dr. Maya Chen, terrestrische Ökologin und außerordentliche Professorin am Institute for Global Environmental Change, kommentiert: "Diese Studie ist wegweisend, weil sie die menschliche Biomassenutzung direkt mit dem Verlust der regulierenden Kraft der Biosphäre verknüpft. Es reicht nicht aus, nur CO2 zu messen; wir müssen die Energieflüsse erfassen, die Ökosysteme tragen. Für Entscheidungsträger ist die Botschaft klar: Ein massives Hochfahren der Biomasse ohne strenge Kriterien für Biodiversität, Boden‑ und Wasserhaushalt riskiert, Kohlenstoffbindung und Resilienz zu untergraben statt zu stärken."
Dr. Chen ergänzt, dass umsetzbare Schritte beinhalten, die am stärksten degradierten und marginalen Flächen vorrangig wiederherzustellen, in ertragsstarke nachhaltige Ernährungssysteme zu investieren, um den Landbedarf zu senken, und naturpositiven CO2‑Minderungsprojekten den Vorzug zu geben, die bestehende kohlenstoffreiche Ökosysteme schützen.
Breiterer wissenschaftlicher und politischer Kontext
Die PIK‑Studie baut auf multidisziplinären Fortschritten in der Erdsystemwissenschaft und der Forschung zu planetaren Grenzen auf. Sie ergänzt Fernerkundungsanalysen von Landbedeckungsänderungen, empirische Studien zur Ökosystemfunktion und politische Analysen landbasierter Minderungsoptionen. Indem sie seit 1600 eine jährlich aufgelöste, globale Karte der funktionalen Biosphärenintegrität bereitstellt, liefert die Arbeit eine historische Basislinie, die bei der Bewertung von Wiederherstellungszielen und der Steuerung internationaler Klimaverhandlungen helfen kann.
Für internationale Klima‑ und Biodiversitätspolitik lautet die Kernbotschaft, dass der Erhalt oder die Wiederherstellung funktionaler Biosphärenintegrität die Klimaminderung verstärkt: Gesunde Ökosysteme speichern Kohlenstoff, regulieren hydrologische Zyklen und puffern Klimaextreme. Umgekehrt wird die fortgesetzte Übernutzung photosynthetischer Energie und großflächige Landumwandlung die Optionen der Menschheit zur Stabilisierung des Klimas einschränken.
Fazit
Die neue Analyse von PIK und Partnern zeigt, dass der Großteil der Landfläche der Erde nicht mehr innerhalb lokal definierter sicherer Biosphärengrenzen operiert: 60 % liegen außerhalb der sicheren Zone und 38 % befinden sich im Hochrisikobereich. Die Treiber sind langanhaltend – vor allem Landwirtschaft und andere Formen der Biomasseaneignung – und die Folgen reichen bis in Klimastabilität, Biodiversität und menschliches Wohlergehen. Die Wiederherstellung photosynthetisch getriebener Energieflüsse und der Schutz verbleibender natürlicher Kohlenstoffsenken müssen als zentrale Säulen wirksamer Klimapolitik behandelt werden. Die Integration hochauflösender Biosphärenmodelle, stärkerer Landnutzungssteuerung und naturpositiver Investitionen bietet einen Weg, Risiko zu verringern und den sicheren Handlungsrahmen für Mensch und Planet wiederherzustellen. Die durch diese Studie erzeugte Karte der funktionalen Biosphärenintegrität liefert ein diagnostisches Instrument – und eine Warnung – wie eng menschlicher Wohlstand an die Gesundheit des lebenden Planeten gebunden ist.
Quelle: sciencedaily
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