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Tintenfische und das 'Marshmallow'-Paradigma
Ein Experiment, adaptiert aus dem klassischen menschlichen Kognitionstest, der allgemein als 'Marshmallow-Test' bekannt ist, liefert überzeugende Hinweise darauf, dass Tintenfische über fortgeschrittene Entscheidungsfähigkeiten verfügen. Ursprünglich zur Messung von verzögerter Belohnung und zukunftsorientierten Entscheidungen bei Kindern entwickelt, lässt sich das Marshmallow-Paradigma für nonverbale Tiere umgestalten, indem Nahrungsbelohnungen eingesetzt und gelernte Signale zur Zeitangabe verwendet werden. Als Forschende ein solches Protokoll an gemeinen Sepien anwendeten, ergänzten die Ergebnisse eine wachsende Forschungslage, die auf eine ausgeprägte Kognition bei Kopffüßern hinweist.
Tintenfische sind bekannt für schnelle Farbwechsel, komplexe Tarnung und flexible Jagdstrategien. Diese Verhaltensweisen deuten auf neuronale Rechnungen hin, die Wahrnehmung, Gedächtnis und Verhaltenskontrolle unterstützen. Die hier diskutierte Studie untersuchte, ob Tintenfische auf ein sofort verfügbares, minderwertiges Beutetier verzichten können zugunsten einer verzögerten, höherwertigen lebenden Beute — ein direkter Test auf Aufschub der Befriedigung, Antizipation zukünftiger Belohnung und adaptive Selbstkontrolle bei einem Wirbellosen.
Versuchsaufbau und Methoden
Das Forschungsteam platzierte sechs gemeine Sepien in einem Versuchstank, der mit zwei transparenten, geschlossenen Kammern ausgestattet war. Jede Kammer enthielt eine Nahrungsart: in der einen eine weniger bevorzugte rohe Königsgarnele, in der anderen eine stark bevorzugte lebende Grasgarnele. Die Kammern wurden von den Tieren durch transparente Türen getrennt, die verschiedene, trainierte Symbole zeigten: ein Kreis signalisierte eine Tür, die sofort öffnete; ein Dreieck zeigte eine Tür an, die nach einer Verzögerung (zwischen 10 und 130 Sekunden) öffnen würde; und ein Quadrat, nur in Kontrollversuchen verwendet, wies darauf hin, dass die Tür geschlossen bleiben und die Beute unzugänglich sein würde.
Die Schlüsselbedingung stellte die Garnele hinter der sofort-öffnenden (Kreis-)Tür und die lebende Garnele hinter der verzögerten (Dreieck-)Tür dar. Wenn eine Sepia die Garnele betrat und vor dem Öffnen der verzögerten Tür verzehrte, wurde die lebende Garnele entfernt und war nicht mehr verfügbar. In Kontrollversuchen wurde die Garnele hinter einer dauerhaft geschlossenen (Quadrat-)Tür gezeigt, sodass die Tiere sie sehen, aber nicht erreichen konnten. Dieses Design verhinderte, dass eine einfache Präferenz für sichtbare Beute die Bewertung des Wartens verfälschte.

Die Forschenden führten außerdem eine separate assoziative Lernaufgabe durch, um kognitive Flexibilität zu beurteilen. Die Tiere wurden trainiert, ein visuelles Signal mit einer Belohnung zu verknüpfen, und nachdem ein Kriterium erreicht war, wurde die Belohnungskontingenz umgekehrt. Reaktionszeiten, Wahlgenauigkeit und die Anzahl der Versuche bis zum Erlernen der umgekehrten Assoziation dienten als Maße für Lernrate und Flexibilität.
Ergebnisse: Verzögerungen, Lernen und Korrelationen
Die Sepien in der Verzögerungs-Bedingung warteten in vielen Durchgängen konstant auf die lebende Garnele und tolerierten Verzögerungen zwischen 50 und 130 Sekunden. Im Gegensatz dazu zeigten jene in der Kontrollbedingung nicht dasselbe Warteverhalten, wenn der bevorzugte Gegenstand offensichtlich unzugänglich war. Dieses Muster deutet darauf hin, dass die Tiere nicht einfach ans Warten gewöhnt waren, sondern Entscheidungen anhand der erwarteten Verfügbarkeit einer besseren Belohnung trafen.
Die Leistung der Tintenfische in der assoziativen Reversal-Aufgabe variierte individuell. Bemerkenswert war, dass Individuen, die sich am schnellsten an das gewechselte visuelle Signal anpassten (also die neue Kontingenz rasch erlernten), auch am ehesten dazu neigten, länger auf die verzögerte Garnele zu warten. Diese Korrelation legt eine Verbindung zwischen kognitiver Flexibilität und Toleranz gegenüber verzögerter Belohnung nahe: Individuen mit schneller Regelumschaltung zeigen möglicherweise auch stärkere Verhaltenskontrolle, um zukünftige Ergebnisse zu verfolgen.
Der Versuchsaufbau und die Illustration der Stimuli sind in der Originalpublikation dargestellt und wie folgt beschriftet:

Der Versuchsaufbau. (Schnell et al., Proc. R. Soc. B, 2021)
Interpretation und vergleichender Kontext
Die Forschenden wiesen darauf hin, dass die von den Sepien tolerierten Verzögerungsdauern vergleichbar sind mit denen, die für großhirnige Wirbeltiere wie Schimpansen, Rabenvögel und Papageien berichtet wurden. Bei Arten, bei denen verzögerte Befriedigung mit Werkzeuggebrauch, Vorratsverhalten oder komplexem Sozialverhalten in Verbindung gebracht wurde, sind die evolutiven Treiber relativ einleuchtend: Planung, Gedächtnis für gelagerte Ressourcen oder soziale Koordination können Geduld belohnen. Sepien jedoch nutzen typischerweise keine Werkzeuge, legen keine Nahrungsreserven an und sind nicht stark sozial, sodass diese konventionellen Erklärungen weniger anwendbar sind.
Das Team schlug eine ökologische Hypothese vor: Sepien verbringen längere Zeiträume getarnt und bewegungslos, während sie darauf warten, Beute zu ergreifen. Das Aufgeben der Tarnung während aktiver Nahrungssuche erhöht die Exposition gegenüber Fressfeinden. Selektion könnte daher Zurückhaltung und optimierte Entscheidungsregeln begünstigen, die unnötige Jagdeinsätze minimieren und hochwertige Beute priorisieren, wenn sie verfügbar ist. Unter dieser Perspektive entsteht verzögerte Belohnung als adaptives Nebenprodukt einer Ansitzjagd-Strategie und des damit verbundenen Risikomanagements gegenüber Prädation.
Hinweise auf episodisches-ähnliches Gedächtnis bei Sepien wurden ebenfalls berichtet, und Folgestudien deuteten auf noch komplexere Gedächtnisdynamiken hin, einschließlich Berichten über falsche-Erinnerungs-ähnliche Phänomene im Jahr 2024. Zusammengenommen zeichnen diese Befunde ein Bild eines Kopffüßergehirns, das flexibles Lernen, gedächtnisbasierte Entscheidungen und Verhaltenshemmung ermöglicht.
Expert*inneneinschätzung
Dr. Elena Morales, kognitive Ökologin (fiktiv), kommentiert: 'Diese Daten helfen, Kopffüßer in der vergleichenden Kognitionsforschung neu zu positionieren. Die Kombination aus Verzögerungstoleranz und schnellem assoziativem Lernen spricht für neuronale Mechanismen, die planungsähnliches Verhalten ermöglichen, selbst in Abwesenheit mam-malienartiger sozialer oder Vorratsdrucke. Zukünftige Arbeiten sollten neuronale Korrelate untersuchen und prüfen, ob Sepien prospektive Hinweise nutzen können, um mehrstufige Handlungen zu planen.'
Diese Expertenperspektive unterstreicht zwei Forschungsprioritäten: das Verknüpfen von Verhalten mit neuronalen Prozessen bei Kopffüßern und das Prüfen, ob verzögerte Entscheidungen echtes Zukunftsplanen widerspiegeln oder eine andere rechnerische Strategie wie aktualisierte Werteinschätzung basierend auf gelernten Kontingenzen darstellen.
Folgerungen und zukünftige Richtungen
Die Studie betont konvergente Evolution kognitiver Fähigkeiten: unterschiedliche Taxa können ähnliche Entscheidungsstrategien entwickeln, wenn ökologische Zwänge bestimmte Verhaltenslösungen begünstigen. Für Kopffüßerforscher motivieren die Ergebnisse Experimente zu längeren Verzögerungen, alternativen Belohnungsmodalitäten und dem Ausmaß, in dem Sepien Warteverhalten auf neue Kontexte verallgemeinern können. Neurobiologische Studien könnten Schaltkreise identifizieren, die Hemmung und prospektive Bewertung in Kopffüßern unterstützen, und bieten damit vergleichende Einblicke, wie komplexe Kognition in verschiedenen Nervensystemen entstehen kann.
Forschende empfehlen auch longitudinale und entwicklungsbezogene Studien, um zu bestimmen, wann Verzögerungstoleranz während der Ontogenese von Sepien auftritt und ob Erfahrung oder individuelles Temperament Geduld und Lernrate vorhersagen. Integrative Ansätze, die Verhalten, Ökologie und Neurophysiologie kombinieren, werden entscheidend sein, um festzustellen, ob Sepien für zukünftige Zustände planen können, ähnlich wie einige Wirbeltiere, oder ob sie andere proximate Mechanismen nutzen, um ähnliche Ergebnisse zu erzielen.
Tintenfische können außerdem ihre Körperfarbmuster verändern, um sich zu tarnen oder zu signalisieren.
Fazit
Diese Adaption des Marshmallow-Paradigmas für Tintenfische liefert robuste Belege dafür, dass Sepia officinalis zum Aufschub der Befriedigung zugunsten einer besseren Nahrungsbelohnung fähig ist und dass diese Fähigkeit mit kognitiver Flexibilität korreliert. Die Ergebnisse erweitern unser Verständnis tierischer Intelligenz und zeigen, wie ökologische Zwänge — Jagdstrategie und Prädationsrisiko — die Evolution von Selbstkontrolle und zukunftsorientierten Entscheidungen prägen können. Weiterführende experimentelle und neurobiologische Arbeiten werden klären, ob Sepien tatsächlich für erwartete zukünftige Zustände planen oder ähnliche Ergebnisse durch alternative kognitive Prozesse erreichen.
Quelle: sciencealert
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