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Warum „After the Hunt" Diskussionen auslöst
Luca Guadagninos Film After the Hunt präsentiert sich als ein Campus-Thriller, der sich bewusst weigert, einfache Antworten zu liefern. Im Zentrum steht eine komplizierte, umstrittene Anschuldigung: Eine Doktorandin erhebt Vorwürfe gegen einen weithin geschätzten Professor. Der Film verfolgt, wie Beschuldigung, Loyalität und Reputation wellenartig durch ein akademisches Umfeld laufen und Beziehungen auf die Probe stellen.
Bei der Premiere beim New York Film Festival sagte Julia Roberts, sie hoffe, der Film rege zu Debatten an; zugleich betonte sie, dass es im Kern der Geschichte um Liebe und Vergebung gehe. Diese doppelte Ausrichtung — öffentliche Debatte einerseits, persönliche Abrechnung andererseits — macht den filmischen Tonfall ambivalent und interessanter als ein reiner Gerichtsfilm oder eine moralische Anklage.
Guadagnino hat ein starkes Ensemble um sich geschart: Roberts spielt Alma, eine Philosophieprofessorin, die zwischen öffentlichem Erfolg und privater Verweigerung zerrieben wirkt; Andrew Garfield ist Hank, der charismatische Professor im Zentrum der Vorwürfe; Ayo Edebiri verkörpert Maggie, die Doktorandin, deren Anschuldigung das Gefüge ins Wanken bringt. Michael Stuhlbarg ist als Almas Ehemann zu sehen, ein Psychiater, der die eskalierenden Spannungen aus nächster Nähe beobachtet.
Die Figuren sind bewusst ambivalent gezeichnet. Keiner wird zur bloßen Karikatur des Täters oder der Opferfigur reduziert; stattdessen zeigt der Film, wie akademische Reputation, Machtverhältnisse und persönliche Loyalitäten komplex ineinandergreifen. Das macht After the Hunt zu einem Film, der nicht auf schnelle Urteile setzt, sondern das Publikum dazu einlädt, seine eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen — und dabei die Grenzen von Empathie, Vergebung und Gerechtigkeit zu hinterfragen.
Bewusste Mehrdeutigkeit und facettenreiche Darstellungen
Anstatt ein eindeutiges moralisches Urteil zu fällen, setzt der Film auf Mehrdeutigkeit. Garfield und Edebiri beschrieben die Produktion beide als eine Art Ausgrabung: Schauspieler, die Motive und innere Widersprüche ausloten, von bewussten Absichten bis zu verdrängten Erinnerungen. Diese Arbeitsweise spiegelt sich auf der Leinwand wider und verlangt vom Publikum eine aktive Auseinandersetzung mit dem Geschehen.
Michael Stuhlbarg verglich das Anschauen mit einem Zeitlupen-Zugunglück — man erahnt den Zusammenstoß, doch die genaue Gestalt des Aufpralls bleibt offen. Diese Nichtfestlegung auf eine einzige Wahrheit ist zugleich Risiko und Stärke des Films: Risiko, weil einige Zuschauer*innen klare Antworten wünschen und mit Ambiguität unzufrieden sein könnten; Stärke, weil der Film dadurch psychologische Tiefe gewinnt und die Zuschauer*innen zum Mitdenken zwingt.
Die Leistung des Ensembles ist vielschichtig: Roberts bringt eine rauchige Würde in die Rolle der Alma, die öffentlich souverän wirkt, innerlich aber Risse zeigt. Garfield balanciert Charme und Bedrohlichkeit so, dass der Zuschauer zwischen Sympathie und Misstrauen hin- und hergerissen wird. Edebiri liefert eine nuancierte Darstellung einer jungen Wissenschaftlerin, deren Mut und Verletzlichkeit gleichermaßen sichtbar sind. Stuhlbargs Figur fungiert als Spiegel: Er beobachtet, interpretiert und gerät selbst in das Netz von Loyalität und Zweifel.
Hinter den Dialogen und den Blicken liegt eine präzise Regieführung. Guadagnino erlaubt längere Einstellungen und setzt auf subtile Körpersprache und Mimik statt erklärender Exposition. Diese formale Zurückhaltung unterstützt die thematische Absicht: nicht zu belehren, sondern Atmosphären und Spannungen aufzubauen. Kameraführung, Schnitt und Produktionsdesign arbeiten zusammen, um ein Bild des akademischen Mikrokosmos zu zeichnen — ein Ort, an dem Ideen geformt, aber auch Macht ausgehandelt werden.

Hinter den Kulissen förderte Guadagnino ausgedehnte Proben und experimentelle Erkundungen. Die Besetzung proben teils in Roberts’ privatem Umfeld, was Edebiri als befreiend beschrieb — ein seltener, intimer Raum, um Interpretationen zu testen, sich ‚selbst zu täuschen‘ und echte, prekäre Chemie zu erzeugen. Solche Proben erlauben, dass Reaktionen spontan und organisch wirken und nicht nur rein technisch gespielt erscheinen.
Diese Arbeitsweise beeinflusst die Tonalität des Films wesentlich: Es entstehen Momente, die wie private, nicht vollständig kontrollierte Wahrheiten wirken — Blicke, Pausen, kleine Gesten, die mehr verraten als explizite Dialoge. Das ist ein Beleg für Guadagninos Vertrauen in seine Schauspieler und seine Bereitschaft, Unsicherheit als erzählerisches Mittel zu nutzen.
Musik, Motive und ihre Bedeutung
Ein wiederkehrendes Lied erklingt siebenmal im Film — ein bewusst gesetztes Motiv, das Roberts als Hinweis auf die thematische Fixierung des Films auf Vergebung zitiert. Diese musikalische Wiederholung schafft eine emotionale Struktur: Sie markiert Wendepunkte, kommentiert innere Zustände und verbindet unterschiedliche Szenen zu einem durchgehenden Verarbeitungsprozess.
Musik fungiert hier nicht nur als Atmosphäre, sondern als narrativer Katalysator. Immer wieder kehrt dieselbe Melodie in verschiedenen Arrangements zurück — mal intim, mal distanziert, mal bedrohlich — und verändert so die Wahrnehmung derselben Grundsituation. Guadagnino und Drehbuchautorin Nora Garrett nutzen dieses Mittel, um zu zeigen, wie Erinnerung und Reue, aber auch Hoffnung und Verdrängung unterschiedliche Nuancen annehmen können.
Weitere filmische Motive wiederholen sich subtil: Spiegelungen, Türrahmen, Tassen oder Bücher, die von Hand zu Hand wandern. Diese Gegenstände fungieren als visuelle Anker, die auf Machttransfer, Beobachtung und die Fragilität des Vertrauens hinweisen. Solche Details erhöhen die narrative Dichte und bieten sehbarkeitsorientierten Betrachter*innen Anhaltspunkte für tiefergehende Interpretationen.
Kontext und Vergleiche
After the Hunt steht an der Schnittstelle zwischen Guadagninos introspektivem Stil (man denke an Call Me by Your Name) und seiner Vorliebe für formale Intensität (erwähnenswert ist Suspiria). Der Film nimmt Anleihen bei beiden Polen: er bleibt emotional nah an den Figuren, gleichzeitig setzt er formale Disziplin ein, um Spannung und Ambivalenz zu erzeugen.
Inhaltlich reiht sich After the Hunt in eine aktuelle Welle von Filmen ein, die sexuelle Übergriffe und institutionelle Machtstrukturen thematisieren — von The Assistant über Promising Young Woman bis hin zu anderen Untersuchungen universitären Missbrauchs. Doch Guadagninos Werk grenzt sich ab: Statt auf klare moralische Verurteilungen zu setzen, priorisiert es psychologische Ambiguität und die Darstellung unterschiedlicher Wahrheiten, die nebeneinander bestehen können. Dadurch eröffnet sich Raum für Diskussionen über Evidenz, Gedächtnis und soziale Dynamiken, ohne dass der Film zu einem plakativen Aktivismus wird.
Einige Produktionsnotizen: Produziert wird der Film von Brian Grazer und Imagine — Namen, die für handwerklich solide und publikumswirksame Produktionen stehen. After the Hunt startet am 10. Oktober in New York und Los Angeles, bevor es am 17. Oktober eine breitere Veröffentlichung über Amazon MGM Studios geben wird. Diese Veröffentlichungspolitik deutet darauf hin, dass der Film sowohl auf Festivals als auch im breiteren Kinomarkt wahrgenommen werden soll — ein Hybridmodell, das heute bei anspruchsvollen Filmen häufig anzutreffen ist.
Man sollte Diskussionen, nicht Uniformität, nach den Vorführungen erwarten. In einer Zeit, die nach eindeutigen Antworten verlangt, entscheidet sich After the Hunt für Fragen. Für manche Zuschauer*innen mag dies frustrierend sein; andere werden die filmische Offenheit als Chance begreifen: Die Unschärfe eröffnet einen Raum für Reflexion über Verantwortung, Vergebung und die Konsequenzen von Anschuldigungen in institutionellen Kontexten.
Der filmische Wert von After the Hunt liegt somit weniger in der Aufklärung eines konkreten Verbrechens als in der Darstellung eines sozialen Prozesses: wie Gemeinschaften reagieren, welche Narrative sich durchsetzen, wie Machtverhältnisse stabilisiert oder in Frage gestellt werden. Guadagnino bleibt dabei weder apologistisch noch populistisch: Er bietet ein dichtes psychologisches Porträt, das Fragen nach Zeugenschaft, Glaubwürdigkeit und moralischer Verantwortung provoziert.
Technisch gesehen überzeugt der Film durch ein bewusst zurückgenommenes Sounddesign, das oft nur minimale Musik und natürliche Geräusche einsetzt, um Intimität zu erzeugen. Das Produktionsdesign zeichnet akademische Räume, die gleichzeitig vertraut und isolierend wirken — Büros mit hohen Regalen, Hörsäle, private Wohnungen, die als Bühnen für intime Verhandlungen dienen. Kostüm- und Lichtgestaltung unterstreichen die soziale Position der Figuren und markieren subtile Verschiebungen im Machtgefüge.
Insgesamt bietet After the Hunt eine Auseinandersetzung, die sowohl filmisch versiert als auch thematisch relevant ist. Er fordert das Publikum heraus, rollt keine moralische Teppichauslegung aus und vermeidet einfache Antworten. Für Zuschauer*innen, die komplexe Charakterstudien und diskursive Filme schätzen, stellt Guadagninos Werk eine lohnende Erfahrung dar — eine, die noch lange im Kopf nachklingen dürfte.
Quelle: hollywoodreporter
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