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Miley Cyrus und die Entstehung der heutigen Cancel Culture
Miley Cyrus hat kürzlich über die Welle an Gegenreaktionen gesprochen, die ihre Karriere Anfang der 2010er-Jahre erschütterte. In einem Gespräch mit CBS Mornings sagte sie, sie frage sich manchmal, ob sie „die erste Person war, die vielleicht jemals gecancelt wurde.“ Diese Aussage erinnert scharf daran, wie schnell Ruhm, Image und soziale Medien zusammenprallten und das formten, was wir heute als Cancel Culture kennen — ein Phänomen, das Karrieren in Musik, Fernsehen und Film nachhaltig beeinflusst hat.
Die Formulierung enthält eine Verdichtung historischer, technologischer und kultureller Entwicklungen: Es geht nicht nur um einzelne Kritikpunkte an einer öffentlichen Person, sondern um ein neues Ökosystem, in dem öffentliche Empörung, Medienzyklen und Plattformmechaniken sofortige Sanktionen ermöglichen. In diesem erweiterten Blick wird Cyrus' Erfahrung zu einem frühen Indikator für die Mechanismen, die heute in vielen öffentlichen Debatten sichtbar sind.
Die Debatte um Cancel Culture umfasst dabei viele Ebenen: moralische Bewertungen, wirtschaftliche Folgen, Strategien des Krisenmanagements und Fragen zur Verantwortung von Künstlern. Wichtig ist außerdem die Rolle von Algorithmen, viralen Clips und Click-Ökonomie, die Empörung monetarisieren und verstärken. Die Geschichte von Cyrus liefert deshalb nicht nur ein Promi-Drama, sondern auch ein Lehrstück über die Dynamiken modernen öffentlichen Lebens.
Von der Disney-Lieblingin zur Provokateurin
Cyrus wurde einem breiten Publikum als Star der Disney-Channel-Serie Hannah Montana (2006–2011) bekannt. Die Rolle war familienfreundlich und machte sie zum Idol vieler Tweens — eine Position, die kommerziell und öffentlichkeitswirksam enorm einträglich war. Mit dem Wechsel hin zu einer offeneren, provokativeren Pop-Identität änderte sich die Wahrnehmung jedoch drastisch.
Der Bruch wurde besonders sichtbar während ihres Auftritts bei den MTV Video Music Awards 2013 mit Robin Thicke und in der anschließenden Bangerz-Phase, die provokante Musikvideos wie "Wrecking Ball" und "We Can't Stop" enthielt. Musikalisch und inszenatorisch war das eine bewusste Neuorientierung: weg von der Disney-Ästhetik, hin zu einer erwachsenen, riskanteren Persona. Für viele Beobachterinnen und Beobachter — insbesondere Eltern, die sie zuvor als Vorbild gesehen hatten — wirkte diese Verwandlung wie ein Verrat an einem zuvor gepflegten Image.
Rückblickend beschreibt Cyrus selbst ein ambivalentes Gefühl: Damals genoss sie kreative Freiheit und Spaß, doch die mediale Reaktion war schärfer, als ihr zunächst bewusst wurde. Solche Phasen der künstlerischen Neuausrichtung sind in der Popgeschichte nicht neu, doch der Kontext der frühen 2010er mit explodierenden sozialen Netzwerken verlieh ihr eine andere, oft verstärkende Dynamik.
Darüber hinaus zeigt diese Transformation, wie schwierig es für ehemalige Kinderstars ist, ernst genommen zu werden, wenn sie erwachsenere Themen erkunden. Die Erwartungshaltung des Publikums kann zur Falle werden: Nehmen Künstlerinnen und Künstler bewusst Distanz zu jugendfreien Bildern, provoziert das nicht nur Neugier, sondern erzeugt manchmal auch moralische Entrüstung und institutionalisierte Kritik.
Kontext: Warum Cyrus' Fall anders wirkt
Der Wandel von Cyrus wird häufig als frühes Beispiel für die moderne Online-Moralpanik zitiert. Vor ihr hatten Stars wie Madonna oder andere ehemalige Disney-Talente wie Justin Timberlake und Britney Spears ebenfalls öffentliche Imagewechsel erlebt — mit unterschiedlichem Echo. Doch die Transformation von Cyrus fiel in eine Zeit, in der soziale Plattformen Empörung in Echtzeit verstärkten und eine ständige Berichterstattung ermöglichten.
Das Tempo, in dem Clips, Schlagzeilen und Meinungsbeiträge kursierten, schuf eine Dauererregung: Diskussionen endeten nicht mehr mit einem einzigen kritischen Artikel, sondern wurden zu wiederkehrenden, oft reaktiven Episoden. Das bedeutete, dass ein kontroverser Auftritt nicht nur kurz Aufsehen erregte, sondern über Tage, Wochen und Monate immer wieder recycelt wurde — auf Nachrichtenseiten, in Blogs, Foren und später in Memes.

Kritikerinnen und Kritiker aus Film und Fernsehen haben Parallelen zu anderen Karrieren gezogen: Justin Biebers öffentlich wahrgenommene Fehltritte, Selena Gomez' persönliche Kämpfe oder Britney Spears' konservatorschaftliche Auseinandersetzung zeigen verschiedene Facetten öffentlicher Kontrolle und Mitgefühl. Doch Cyrus' Fall ist besonders, weil er sich an der Schnittstelle von Jugendfernsehen, provokativen Musikvideos und einem 24/7-Publikum abspielte.
Ein weiterer Grund, warum ihr Fall anders wirkt, liegt im Generationenkonflikt: Die, die sie als junges Idol kannten, fühlten sich übergangen, während jüngere oder alternative Publikumsschichten die neue, freiere Ästhetik als befreiend feierten. Diese gespaltene Rezeption ist für das Verständnis moderner Prominenz zentral — sie zeigt, wie kulturelle Beurteilungen alters- und identitätsabhängig sein können.
Schließlich verstärkte der mediale Prozess selbst die Polarisierung: Meinungsartikel, Talkshows und Kommentarspalten lieferten ständig neue Interpretationen und moralische Bewertungen. In diesem Umfeld wird aus einem künstlerischen Statement schnell ein Symbol für gesellschaftliche Debatten — über Sexualität, Jugendkultur, Authentizität und öffentliche Verantwortung.
Industrie- und künstlerische Perspektive
Für die Branche ist Cyrus' Geschichte lehrreich: Die Unterhaltungsindustrie belohnt häufig Neuorientierung, weil sie Aufmerksamkeit erzeugt und Karrieren am Leben hält. Erfolgreiche Re-Inventionen sind oft kommerziell sinnvoll. Gleichzeitig zeigt die Reaktion, dass das Publikum und die Medien als Vermittler sehr unterschiedliche Erwartungen haben können — und dass Provokation sowohl Türen öffnen als auch Groll hervorrufen kann.
Regisseure von Musikvideos, Produzentinnen und Pop-Strategen nutzten in den 2010er-Jahren bewusst Schockästhetik, um frühere Kinderstars von ihren alten Images zu lösen. Diese Strategie liefert Aufmerksamkeit, aber sie bringt auch Risiken mit sich: moralische Empörung, Boykotte oder langfristige Reputationsschäden können folgen. Künstlerische Freiheit trifft hier auf die Wirtschaftlichkeit von Aufmerksamkeit — eine Balance, die schwer zu halten ist.
Filmkritikerin Anna Kovacs fasst es pointiert zusammen: "Cyrus' Werdegang ist ein Lehrbeispiel dafür, wie sich Ruhm und Image-Management verändert haben, als soziale Plattformen zum Gerichtshof der öffentlichen Meinung wurden." Ihre künstlerischen Entscheidungen zwangen die Öffentlichkeit dazu, darüber zu streiten, welche Identitäten einer Person zugestanden werden. Genau diese Spannung zwischen Persona und Performance ist zentral für das Verständnis moderner Prominenz.
Aus Produktionssicht haben solche Transformationen aber auch positive Effekte: Sie treiben kreative Teams zu innovativeren Konzepten, fördern interdisziplinäre Zusammenarbeit (Mode, Tanz, Film) und schaffen neue ästhetische Standards. Gleichzeitig verlangen solche Projekte sorgfältiges Krisenmanagement und ein Bewusstsein für mögliche kulturelle Resonanzen.
Hinter den Kulissen und Fan-Reaktionen
Die Reaktionen der Fans waren geteilt und sind es bis heute: Einige begrüßten die neue, kompromisslose Miley, andere sehnten sich nach der Hannah-Montana-Phase zurück. Diese geteilte Anhängerschaft ist charakteristisch für wandelbare Popfiguren: Veränderungen schaffen neue Fangruppen, können aber auch langjährige Unterstützer entfremden.
Hinter den Kulissen hat Cyrus mehrfach betont, dass sie ihre Disney-Vergangenheit nicht vollständig ablehnt. In einem Gespräch auf dem Podcast "Every Single Album" von The Ringer sagte sie, sie verspüre Hannah immer noch in gewisser Weise und erkenne die prägende Rolle dieser Figur für ihre Identitätsentwicklung an. Diese Reflexion signalisiert, dass Identität nicht abrupt wechselt, sondern schichtweise neu ausgehandelt wird.
Ein Blick auf die Inszenierung des VMA-Auftritts zeigt außerdem, wie kalkuliert Provokation oft ist: Choreografie, Kostüme und Bühnendesign waren bewusst darauf angelegt, Schlagzeilen zu produzieren — ein gängiges Mittel, das Künstlerinnen und Künstler nutzen, um kreative Neurichtungen zu markieren. Das Ergebnis war ein Ereignis, das sich in Rückblicken und Retrospektiven immer wiederfindet und das bis heute analysiert wird.
Fan-Communities spielten eine doppelte Rolle: Sie unterstützten Cyrus in vielen Momenten, organisierten Streaming-Kampagnen und verteidigten ihre künstlerischen Entscheidungen. Gleichzeitig trieben social-media-gestützte Debatten und Shitstorms die Polarisierung voran. Diese duale Dynamik macht deutlich, wie wichtig Fanbindung und Community-Strategien für moderne Künstler sind — und wie verletzlich diese Strukturen gegenüber öffentlichen Empörungswellen bleiben.
Vermächtnis: Preise, Neuorientierung, Resilienz
Unabhängig vom damaligen Spott haben spätere Erfolge dazu beigetragen, die Narrative zu verändern. Cyrus gewann 2024 ihre ersten beiden Grammys für "Flowers" und erhielt 2025 einen weiteren Grammy für ein Duett mit Beyoncé — Auszeichnungen, die zeigen, dass institutionelle Anerkennung und künstlerische Leistung langfristig Gewicht haben. Solche Errungenschaften können mediale Stürme nicht sofort auslöschen, doch sie stabilisieren ein Künstlerinnen-Image auf längere Sicht.
Ihr Karrierebogen — von einer TV-Hauptrolle über die provokante Popphase bis hin zur Anerkennung als ernstzunehmende Künstlerin — lässt sich als Beispiel für Resilienz lesen. In einer Zeit, in der öffentliche Urteile schnell gefällt werden, zeigt Cyrus' Laufbahn, wie künstlerische Kontinuität, strategische Neuausrichtung und musikalische Qualität einander ergänzen können, um eine längerfristige Reputation wieder aufzubauen.
Wichtig ist dabei die Lehre für Kreative: Imagearbeit ist zugleich kreative Strategie und kulturelles Risiko. Wer bewusst Grenzen testet, muss mit öffentlicher Gegenwehr rechnen, aber er kann auch kulturelle Diskurse neu ausrichten und Räume für andere Stimmen schaffen. Ob man Cyrus' Entwicklung als mutige Neuorientierung oder als Beispiel für die Härte öffentlicher Meinung betrachtet — ihre Geschichte gehört zu den prägenden Erzählungen über Prominenz und öffentliche Kontrolle in den 2010er-Jahren und darüber hinaus.
Für Branchenprofis, Produzenten und Nachwuchskünstlerinnen bietet das Beispiel konkrete Einsichten in Krisenkommunikation, Community-Building und die Bedeutung, künstlerische Identität sowohl authentisch als auch strategisch zu gestalten. Letztlich zeigt der Fall auch, dass die öffentliche Meinung zwar mächtig ist, aber nicht zwangsläufig dauerhaft entscheidet: Qualität, Anerkennung und künstlerische Integrität können im Lauf der Zeit die Erzählung verändern.
Quelle: hollywoodreporter
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