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Ein heimlicher Eindringling kann das Regelwerk innerhalb einer Ameisenkolonie völlig umschreiben. Neue Aufnahmen und Forschungsergebnisse, veröffentlicht in Current Biology, zeigen, wie parasitische Lasius-Königinnen in fremde Nester eindringen, die ansässige Königin mit einem feindlichen Geruch überziehen und die Arbeiterinnen dazu bringen, ihre eigene Mutter zu töten — um anschließend die Kolonie zu übernehmen.
Wie ein Eindringling Töchter gegen ihre Mutter aufbringt
Feld- und Laborbeobachtungen dokumentieren, dass parasitische Königinnen der Arten Lasius orientalis oder Lasius umbratus in Nester von Lasius flavus oder Lasius japonicus schlüpfen. Zunächst «leiht» sich die Eindringlingskönigin den Geruch der Zielkolonie, indem sie ihren Körper an Arbeiterinnen außerhalb des Nestes reibt. Diese Taktik verdeckt ihren fremden Geruch und erlaubt ihr, von den Wächtern unbemerkt passiert zu werden.
Sobald sich die Parasitin im Inneren befindet, nutzt sie ein anatomisches Sprühorgan, das sogenannte Acidoporus, um gezielte Flüssigkeitsstöße auf die ansässige Königin zu richten. Anhand von Anatomie und beobachtetem Verhalten schließen die Forscher, dass es sich bei dieser Flüssigkeit sehr wahrscheinlich um Ameisensäure handelt — ein in Ameisen verbreitetes chemisches Signal, das sowohl zur Verteidigung als auch zur Kommunikation eingesetzt wird. Durch wiederholtes Auftragen dieses scharfen, abstoßenden Geruchs verwirrt die Parasitin die chemische Erkennung der Kolonie.
Diese Strategie kann als eine Form von chemischer Maskierung und gezielter Geruchstörung verstanden werden: Die Parasitin ersetzt oder überlagert die individuelle Signatur der Wirtskönigin mit einer „fremden“ oder aversiven Markierung, wodurch die sonst verlässlichen Erkennungsmechanismen der Arbeiterinnen fehlgeleitet werden.
Wenn Geruch Verwandtschaft überlagert: das fatale Missverständnis
Ameisenkolonien unterscheiden Freund von Feind überwiegend anhand chemischer Cues, vor allem über Cuticula-Hydrokarbone und andere Geruchssignale. Die durch Ameisensäure veränderte Signatur lässt die ansässige Königin wie einen Eindringling erscheinen. Die Arbeiterinnen, deren primäre Aufgabe der Schutz des reproduktiven Zentrums der Kolonie ist, reagieren daraufhin aggressiv — sie zerreißen die Königin und begehen so unter chemischer Täuschung eine Form von Muttermord.

Indem sie ihre eigene Königin fälschlich für einen Eindringling halten, reißen die Arbeiterinnen sie in Stücke
Nach jedem Angriff zieht sich die parasitische Königin kurz zurück, um Spuren ihres eigenen Sprühvorgangs zu vermeiden; die Wirtsarbeiterinnen können Ameisensäure wahrnehmen und würden sonst auch die Eindringlingskönigin angreifen. Die Fremde wiederholt das Markieren und das kurze Zurückziehen, bis die ursprüngliche Königin getötet ist. Diese wiederholte, opportunistische Taktik reduziert das Risiko eines direkten Kampfes mit vielen Arbeiterinnen und minimiert gleichzeitig offene Konfrontationen, die der Parasitin schaden könnten.
Laboraufnahmen mit hoher Bildrate belegen den zeitlichen Ablauf dieses Vorgehens: das gezielte Annähern, das anfängliche Übertragen des Wirtsgeruchs, die geriatrischen Sprühstöße und die schrittweise Eskalation der Aggression der Arbeiterinnen gegenüber ihrer eigenen Königin.
Vom Putsch zur Krönung: Übernahme und Akzeptanz
Ist die einheimische Königin entfernt, beginnt die parasitische Königin innerhalb kurzer Zeit, eigene Eier zu legen. Bemerkenswerterweise akzeptieren die Arbeiterinnen die neue Brut und versorgen die Eindringlingskönigin wie ihre bisherige Matriarchin. Diese soziale Übernahme — eine Form des Sozialparasitismus — ersetzt eine reproduktive Linie durch eine andere, ohne dass es zu großflächigen Kämpfen unter den Arbeiterinnen kommt.
Die Folge ist eine subtile, aber nachhaltige Umstrukturierung der Kolonie: genetisch fremde Nachkommen werden aufgezogen, die Arbeitsstruktur bleibt weitgehend intakt, und die Koloniefunktionalität bleibt erhalten, obwohl die genetische Identität der reproduzierenden Linie verändert wurde.
Dieses Szenario ist ein eindrückliches Beispiel für chemische Spionage in Insektengesellschaften. Es zeigt, wie fein abgestimmt die Erkennungssysteme von Ameisen sind — und wie leicht diese Systeme manipuliert werden können, wenn Geruchssignale geändert werden. Die Studie kombiniert behaviorale Beobachtungen mit hochauflösenden Videoaufnahmen, um einen Prozess zu dokumentieren, der, so brutal er ist, zugleich strategisch sowie wiederholbar erscheint.
Warum das wichtig ist
Über die naturgeschichtliche Faszination hinaus liefert diese Untersuchung Erkenntnisse zur chemischen Kommunikation, zu evolutionären Strategien des Parasitismus und zur Resilienz von Kolonien. Ein besseres Verständnis dieser Dynamiken kann weitreichende Fragen der Verhaltensökologie beleuchten, etwa wie soziale Tiere sich gegen Täuschung schützen und welche Faktoren Kolonien anfälliger oder widerstandsfähiger gegenüber Übernahmen machen.
Die Autoren betonen, dass Ameisen «in einer Welt der Gerüche» leben — und diese Welt lässt sich von einer entschlossenen Parasitin umgestalten. Die Arbeit von Shimada et al., veröffentlicht in Current Biology (2025), enthält seltenes, beklemmendes Filmmaterial eines biologischen Putsches in Aktion und erweitert damit unsere Sicht auf die Komplexität sozialer Interaktionen bei Insekten.
Aus evolutionärer Perspektive stellt sich die Frage, welche genetischen, physiologischen und ökologischen Voraussetzungen solchen Parasiten das Eindringen erleichtern. Faktoren wie Nestarchitektur, Arbeiterzahl, genetische Varianz innerhalb der Kolonie, saisonale Bedingungen sowie die Häufigkeit von Nestwechseln können die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Sozialparasitismus beeinflussen.
Methodisch liefert die Studie ein Modell für zukünftige Untersuchungen: die Kombination aus Feldarbeit, kontrollierten Laborexperimenten und High-Speed-Videografie erlaubt es, feinste Verhaltenssequenzen zu rekonstruieren und die chemischen Mechanismen mit analytischen Techniken zu verknüpfen. Gaschromatographie-Massenspektrometrie (GC–MS) oder andere chemische Analysen wären geeignete Ergänzungen, um die genaue Zusammensetzung der ausgesprühten Flüssigkeit zu bestätigen und die Modifikation der Cuticula-Profile bei Wirtsindividuen zu dokumentieren.
Praktische Implikationen betreffen nicht nur die Grundlagenforschung: Erkenntnisse über chemische Täuschung und Nestverteidigung könnten auch in der Schädlingsforschung oder im Naturschutz relevant werden, wenn etwa invasive Arten oder veränderte Lebensräume die Vulnerabilität natürlicher Kolonien erhöhen.
Weiterhin stellt sich die Frage nach Gegenstrategien: Gibt es Verhaltensweisen oder physiologische Anpassungen, mit denen Wirtskolonien die Integrität ihrer Geruchssignaturen wiederherstellen oder fremde Markierungen neutralisieren können? Einige Ameisenarten zeigen Verhaltensweisen wie gegenseitiges Putzen (Grooming), Verreiben von Nestmaterial oder gezielte Produktion von linken Cuticularkomponenten, die als «Reset» fungieren könnten. Ob diese Maßnahmen gegen eine gezielte und wiederholte Ameisensäuremarkierung wirksam sind, bleibt experimentell zu prüfen.
Die Arbeit liefert zudem Ansätze für das Verständnis von Echtheitsprüfung in sozialen Systemen: So lassen sich Parallelen ziehen zu anderen Tieren, die visuelle, akustische oder chemische Identitätsmarker nutzen, und zu den allgemeinen Problemen, die entstehen, wenn Erkennungsmechanismen anfällig für Manipulation sind.
Schließlich eröffnet die Studie Fragen zur Dynamik von Konflikten innerhalb von Kolonien: Wann lohnt sich Aggression gegen eine vermeintlich fremde Königin, und unter welchen Umständen könnte die Akzeptanz einer Fremdführerin den Kolonieerfolg sogar erhöhen? Solche Abwägungen sind von zentraler Bedeutung für Modelle zur Evolution von Kooperation und Parasitismus.
Zusammenfassend zeigt der Fall, wie eine Kombination aus chemischer Täuschung, taktischem Verhalten und der sensiblen Natur der sozialen Erkennung einen dramatischen Machtwechsel in Ameisenkolonien bewirken kann. Für Forscher im Bereich der Verhaltensbiologie, chemischen Ökologie und Evolution bietet die Studie reichhaltiges Material für weiterführende Experimente und theoretische Arbeiten.
Quellenhinweis: Die hier zitierten Beobachtungen und Interpretationen basieren auf der Veröffentlichung von Shimada et al. in Current Biology (2025) sowie ergänzender Literatur zur chemischen Kommunikation und zum Sozialparasitismus innerhalb der Gattung Lasius. Lead-Autor Keizo Takasuka und sein Team liefern mit ihren Videoaufnahmen und Verhaltensdaten eine wichtige empirische Grundlage für das Verständnis dieser Phänomene.
Quelle: sciencealert
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