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Wie Schlangen Knochen verdauen: Ein faszinierendes Rätsel
Bei den meisten Fleischfressern bleiben nach der Mahlzeit auffällige Knochenreste zurück, da nur wenige Tiere in der Lage sind, Skelette vollständig zu verdauen. Doch Schlangen – insbesondere große Würgeschlangen wie der Dunkle Tigerpython (Python molurus bivittatus) – bilden eine bemerkenswerte Ausnahme. Dank ihrer außergewöhnlich flexiblen Kiefer verschlingen sie ihre Beute im Ganzen. Anschließend verschwinden alle Überreste nahezu vollständig; Knochen sind in ihrem Kot kaum zu finden. Bis vor Kurzem war die Frage, wie Schlangen diese vollständige Verdauung von Knochen bewerkstelligen, ein ungelöstes wissenschaftliches Rätsel.
Entdeckung neuer Darmzellen beim Tigerpython
Aktuelle Forschungen eines Teams der Universität Montpellier brachten Licht ins Dunkel: Sie entdeckten einen bislang unbekannten Zelltyp im Darm des Tigerpythons, der diese außergewöhnliche Verdauungsfähigkeit erklärt. Mittels detaillierter morphologischer Untersuchungen identifizierte der Biologe Jehan-Hervé Lignot mit seinem Team spezielle, hoch spezialisierte Enterozyten – Zellen, die die Darmwand der Schlange auskleiden – die sich deutlich von denen anderer Wirbeltiere unterscheiden. Laut Lignot sind „diese Zellen extrem schmal, besitzen kurze Mikrovilli und verfügen über eine apikale Einfaltung, die eine markante Krypta bildet. Diese Struktur scheint eine zentrale Rolle bei der Knochendegestion zu spielen.“

Osteophagie im Tierreich: Wissenschaftlicher Hintergrund
Der gezielte Verzehr von Knochen, im Fachjargon Osteophagie genannt, ist bei Wirbeltieren selten. Nur wenige Arten – etwa manche Schlangen und Bartgeier – nutzen diese Strategie, um lebenswichtige Mineralien wie Kalzium und Phosphor aufzunehmen. Für Schlangen sind diese Mineralstoffe essenziell für Gesundheit und Entwicklung. Werden in Gefangenschaft gehaltene Schlangen ausschließlich mit fleischigen, knochenlosen Beutestücken gefüttert, kann das schnell zu einem gefährlichen Kalziummangel führen.
Versuche und Mechanismus auf Zellebene
Das Forschungsteam verglich mittels Licht- und Elektronenmikroskopie die Darmgewebe von nüchternen Schlangen, solchen mit kompletter Beute und Tieren, die knochenlose Ratten gefressen hatten. Zusätzlich wurden Hormon- und Kalziumwerte im Blut der verschiedenen Gruppen untersucht. Die Ergebnisse zeigten: Die speziellen Enterozyten der Tigerpythons bilden im Verdauungsprozess Krypten, die mit dichten, mehrschichtigen Mineralpartikeln gefüllt werden. Diese bestehen überwiegend aus Kalzium, Phosphor und Eisen.
Fütterte man die Schlangen mit Beutetieren samt Knochen, bildeten sich in den Krypten Mineralablagerungen. Bei nüchternen Tieren oder bei Fütterung ohne Knochen blieben die Krypten leer oder enthielten nur vereinzelte Eisenrückstände. Wurde die knochenfreie Kost mit Kalzium ergänzt, setzte die Mineralbildung erneut ein. Interessanterweise fanden sich keinerlei Knochenfragmente im Kot der Schlangen – ein klarer Beleg dafür, dass der neue Zelltyp die vollständige Aufnahme und Verdauung von Knochen ermöglicht.

Evolutionäre Bedeutung und weiterer Kontext
Diese spezialisierten Darmezellen erfüllen offenbar einen doppelten Zweck: Sie fördern gezielt die Aufnahme von Kalzium und Phosphor aus Knochen und lagern überschüssige Mineralien ein, um das Gleichgewicht des Mineralstoffwechsels zu sichern. Die Entdeckung wirft spannende evolutionäre Fragen auf. Das Forscherteam fand vergleichbare Zellstrukturen auch bei anderen großen Schlangen – darunter Boas, Anakondas und weitere Pythonarten – sowie bei der Gila-Krustenechse (Heloderma suspectum). Dies legt nahe, dass diese Eigenschaft entweder früh in der Stammesgeschichte entstand oder sich mehrfach unabhängig entwickelte, jeweils bei Arten, die ganze Wirbeltiere inklusive Knochen verzehren.
„Meerestiere, die fischfressend leben, oder Vögel wie Bartgeier, die große Mengen Knochen schlucken, könnten ähnliche Anpassungen entwickelt haben“, erklärt Lignot. Weitere Studien an diesen Tieren könnten grundlegende Einblicke in die Verdauung und Mineralstoffregulation bei Wirbeltieren liefern.

Relevante Forschung und Perspektiven
Diese Entdeckung beleuchtet nicht nur einen faszinierenden Aspekt der Schlangenphysiologie, sondern könnte auch weitreichende Bedeutung haben. Die Erkenntnisse zur Verarbeitung großer Mineralmengen bei Schlangen eröffnen neue Möglichkeiten für die medizinische Forschung, etwa im Zusammenhang mit dem Kalziumstoffwechsel, und könnten neue Ansätze beim Ernährungsmanagement gefährdeter oder in Gefangenschaft gehaltener Reptilien liefern. Künftige Untersuchungen werden sich vermutlich auf weitere knochenfressende Tiere ausweiten, um vergleichbare Verdauungsanpassungen zu entdecken.
Fazit
Die Entdeckung eines neuartigen Zelltyps im Darm von Pythons, der die vollständige Verdauung von Knochen ermöglicht, markiert einen bedeutenden Fortschritt in der vergleichenden Physiologie. Sie erklärt, wie Schlangen lebenswichtige Mineralien aus ihrer Nahrung effizient aufnehmen, ohne sich selbst zu schaden, und eröffnet neue Wege, den evolutionären Zusammenhang von extremen Ernährungsmethoden und der Entwicklung von Verdauungssystemen bei Wirbeltieren zu erforschen. Mit jeder weiteren Tierart, die untersucht wird, wächst unser Wissen über die grundlegenden Prozesse, die komplexes Leben auf unserer Erde ermöglichen.
Quelle: sciencealert
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