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Einleitung: Europas neue Ära der kommerziellen Raketenstarts
Die Europäische Weltraumorganisation (ESA) startet eine wegweisende Mission, um ihren Zugang zum Weltall zu stärken und zu diversifizieren. Mit der Auswahl von fünf vielversprechenden Raketen-Startups will die ESA bis zu 169 Millionen Euro (rund 198 Millionen US-Dollar) an möglicher Förderung vergeben. Diese Initiative soll Alternativen zum langjährigen Marktführer Arianespace fördern und Europas Raumfahrtindustrie mehr Innovationskraft und Wettbewerb verschaffen. Die ausgewählten Unternehmen – Isar Aerospace, MaiaSpace, Rocket Factory Augsburg, PLD Space und Orbex – stehen für eine neue Generation von Raumfahrttechnologie und Dynamik, die Europas Markt für kommerzielle Raketenstarts grundlegend verändern könnte.
Wissenschaftlicher Kontext: Die Entwicklung des europäischen Startsektors
Bisher dominierte Arianespace, unterstützt von etablierten ESA-Förderstrukturen und politischen Prinzipien wie dem „geografischen Rückfluss“, den europäischen Raketenstartmarkt. Obwohl dieses System technologische Entwicklung und Zusammenarbeit fördern konnte, führten bürokratische Prozesse oftmals zu Verzögerungen und Kostensteigerungen. Das zeigte sich besonders beim langwierigen Ariane 6-Projekt, dessen Jungfernflug für Juli 2024 nach jahrelanger Verspätung vorgesehen ist.
Die ESA setzt jetzt einen neuen Schwerpunkt: Statt Verträge nach Landesproporz zu vergeben, werden technisch und wirtschaftlich überzeugende Startups zuerst ausgewählt. Erst danach verhandelt die ESA mit den jeweiligen Regierungen über Finanzierungen. Dieser wettbewerbsorientierte Ansatz belohnt effizientes Arbeiten, technische Reife und nachhaltige Geschäftsmodelle – und soll Europas unabhängigen Zugang zum All angesichts rasant wachsender internationaler Konkurrenz sichern.
ESA Launcher Challenge: Struktur, Ziele und Auswirkungen
Die ESA Launcher Challenge gliedert sich in zwei zentrale Bereiche:
- Startdienstleistungsverträge: Startups konkurrieren um die Durchführung von ESA-Starts zwischen 2026 und 2030. Damit schafft die ESA erstmals einen direkten Zugang zu kommerziellen Aufträgen.
- Demonstration erweiterter Fähigkeiten: Jedes Unternehmen hat die Gelegenheit, durch mindestens eine Demonstrationsmission erweiterte Startkapazitäten unter Beweis zu stellen und schwerere Nutzlasten zu transportieren.
Die Maximalförderung von 169 Millionen Euro pro Unternehmen deckt beide Komponenten ab. Verträge sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht garantiert – es folgen Verhandlungen mit den jeweiligen Nationalregierungen und der ESA bis zur finalen Entscheidung auf der Ministerratskonferenz im November. Das „Vorauswahl“-Label betont dabei den leistungsorientierten und wettbewerblichen Prozess, der Europas Kommerzialisierung der Raumfahrt, geringere Startkosten und die Souveränität im All stärken soll.
Die fünf europäischen Launcher-Startups im Profil
Mit ihrer Auswahl legt die ESA Wert auf geografische wie technologische Vielfalt und fokussiert vor allem Unternehmen, die Trägersysteme für den wachstumsstarken Small-Satellite-Markt entwickeln. Nachfolgend ein Überblick über die fünf Nominierten – sortiert nach Fortschritt auf dem Weg zum ersten orbitalen Start.
Isar Aerospace (Deutschland): Europas Vorreiter Richtung Orbit
Isar Aerospace aus München gilt als das führende und zugleich am besten finanzierte Raketenstartup Europas. Seit Gründung 2018 wurden über 550 Millionen Euro (645 Millionen US-Dollar) eingesammelt – Rekord unter den Konkurrenten. Die Spectrum-Rakete startete im März 2024 erstmals aus Norwegen zu einem Orbitversuch – auch wenn die Mission kurz nach dem Start fehlschlug, war es der erste Orbitalstart-Versuch eines europäischen Startups.
Spectrum ist eine zweistufige Rakete mit Propan und flüssigem Sauerstoff, die bis zu 1 Tonne in den niedrigen Erdorbit, beziehungsweise 700 Kilogramm in den sonnensynchronen Orbit (SSO) befördert. Mit 28 Metern Höhe setzt Isar Aerospace auf Zuverlässigkeit und schnelle Startzyklen. Derzeit entstehen zwei weitere Spectrum-Raketen, das Ziel ist ein erneuter Startversuch am Raumfahrtbahnhof Andøya in Nordnorwegen Ende 2025.
Isar kommentierte auf X (ehemals Twitter): „Mit dieser Initiative leitet die ESA einen entscheidenden Schritt zur Kommerzialisierung und zum Ausbau von Startdiensten ein – das ist essentiell für die Souveränität im Weltraum.“ Damit betont das Unternehmen die Bedeutung dieser Förderinitiative für Europas Raumfahrtzukunft.
MaiaSpace (Frankreich): Europas Weg in die Wiederverwendung
Das Pariser Unternehmen MaiaSpace setzt als 100-prozentiges Tochterunternehmen von ArianeGroup gezielt auf wiederverwendbare Raketen und profitiert von solider Industrieerfahrung. Seit der Gründung 2022 investierte ArianeGroup 125 Millionen Euro (147 Millionen US-Dollar) in die Entwicklung der Rakete Maia.
Maia soll mit 50 Metern Höhe und zwei Stufen – angetrieben von Methan und flüssigem Sauerstoff – bis zu 1,5 Tonnen Nutzlast in den SSO bringen. Ein Alleinstellungsmerkmal ist die geplante Rückführung und Wiederverwendung der Erststufe per Landung auf einer Offshore-Plattform, vergleichbar mit SpaceX’s Falcon 9. Der Erstflug ist ab 2025 vom umgenutzten Sojus-Startplatz am Weltraumbahnhof in Kourou (Guayana) geplant. MaiaSpace setzt dabei auf das Prometheus-Triebwerk, das in Kooperation mit der ESA entwickelt wurde.
Dank starker Finanzausstattung, industrieller Rückendeckung und konsequenter Wiederverwendbarkeits-Strategie gehört MaiaSpace zu den Schlüsselakteuren beim Wandel Europas zum global wettbewerbsfähigen Trägermarkt.
Rocket Factory Augsburg (Deutschland): Fokus auf Zuverlässigkeit und Volumen
Die Rocket Factory Augsburg (RFA) aus Bayern plant modulare Raketenstarts mit hoher Startfrequenz für kommerzielle und institutionelle Kunden. Das Hauptprojekt RFA One ist eine dreistufige Rakete für bis zu 1,3 Tonnen in den SSO – ausgelegt besonders für Erdbeobachtungs- und Small-Satellite-Missionen.
Nach Rückschlägen bei Testläufen – ein Booster explodierte beim Stufentest 2023 auf der SaxaVord Spaceport in Schottland – arbeitet RFA aktuell an neuen Boostern und ist mit den Entwicklungsarbeiten der zweiten und dritten Stufe weiter fortgeschritten. Mit rund 100 Millionen Euro Finanzierung bleibt das Unternehmen hinter Isar und MaiaSpace zurück. Die Inbetriebnahme erster RFA-Starts ist für Ende 2025 vorgesehen.

PLD Space (Spanien): Spaniens Pionier der kommerziellen Raketenstarts
PLD Space aus Elche hat sich als Vorreiter bei suborbitalen und Small-Sat-Starts aufgestellt. Im Oktober 2023 gelang mit der Miura 1 – einer suborbitalen Flüssigrakete – ein erfolgreicher Teststart in Südspanien, der essenzielle Technologien für die geplante Orbitallösung Miura 5 validierte.
Miura 5 soll teilweise wiederverwendbar bis zu 540 Kilogramm in einen sonnensynchronen Orbit bringen. Der Erstflug ist für 2025 von Kourou in Französisch-Guayana geplant; hierzu wurde kürzlich eine Zusammenarbeit mit der französischen Weltraumagentur CNES bekannt gegeben. Die Finanzierung beläuft sich auf über 160 Millionen Euro (188 Millionen US-Dollar), wobei etwa die Hälfte aus Darlehen besteht. PLD Space stärkt damit Europas Kapazitäten bei kleinen Startdienstleistungen und prägt den kommerziellen Launcher-Markt auf der iberischen Halbinsel.
Orbex (Großbritannien): Nachhaltigkeit bei Kleinstsatelliten-Starts
Das britische Unternehmen Orbex setzt Innovationen gezielt im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit um. Die Hauptträgerrakete Prime soll bis zu 180 Kilogramm in den niedrigen Erdorbit bringen; der erste Start ist vom SaxaVord Spaceport auf den Shetlandinseln geplant, wo Orbex derzeit den Startplatz aufbaut.
Orbex arbeitet zudem an einer größeren Rakete „Proxima“ für institutionelle Nutzlasten. Bislang hat Orbex rund 130 Millionen Pfund (177 Millionen US-Dollar) eingeworben – das geringste Finanzvolumen aller ESA-Finalisten. Dennoch bringt die Teilnahme von Orbex wichtige geografische Diversität in das Feld und könnte zusätzliche Impulse für die britische Beteiligung am europäischen Raumfahrtmarkt setzen.
Zentrale Auswahlkriterien der ESA
Die Beurteilung durch die ESA basierte auf mehreren strengen Maßstäben:
- Technische Reife: Wie ausgereift und getestet sind Rakete und Systeme?
- Nachhaltige Geschäftsmodelle: Liegt ein tragfähiger, solide finanzierten Businessplan vor?
- Marktkonformität zur ESA: Können die Unternehmen europäischen Nutzlastanforderungen entsprechen?
- Einhaltung der Beschaffungsregeln: Sind die Prozesse transparent und robust?
So entsteht ein starkes Startup-Feld mit Potenzial, Europas Anteil am globalen Launcher-Markt entscheidend zu erhöhen – durch Partnerschaften, ausgedehnte Lieferketten und neue Startinfrastrukturen, die regionale Raumfahrtökosysteme anstoßen.
Gesellschaftliche und strategische Bedeutung der ESA Launcher Challenge
Die Challenge ist weit mehr als ein Auftragsprogramm – sie ist ein strategischer Schritt zur technologischen Souveränität Europas im All. International floriert der Markt für kommerzielle Raketenstarts, angeführt von US-Firmen wie SpaceX und Rocket Lab, die Wiederverwendbarkeit, Flexibilität und neue Geschäftsmodelle etabliert haben. Europas Förderung heimischer Raketenbauer zielt auf ähnliche Innovationsimpulse, reduziert Abhängigkeiten von etablierten Systemen und stärkt die Wettbewerbsfähigkeit.
Das Wachstum des Small-Satellite-Marktes prägt die Technologieentwicklung: Der rasant steigende Bedarf an günstigen, flexiblen Kleinsatelliten-Starts – wichtig für Kommunikation, Erdbeobachtung oder Forschung – verlangt effiziente Dienstleister. Die neue Startup-Generation bietet genau dies: schnellere Planung, Rideshare-Optionen und geringere Startkosten.
Für die Startups könnte die finanzielle Unterstützung von bis zu 169 Millionen Euro ein Durchbruch sein. Während sie bislang vorrangig von Risikokapital und begrenzten Staatszuschüssen finanziert wurden, kann ein ESA-Vertrag in dieser Wachstumsphase stabile Perspektiven und neue Privatfinanzierungen erschließen.
Ausblick: Technologie, Zusammenarbeit und Wettbewerbsfähigkeit
Im weiteren Verlauf stehen technologische Innovationen besonders im Fokus: Propan- und Methantriebwerke, wiederverwendbare Stufen, automatisierte Fertigung und effiziente Antriebszyklen werden erprobt. MaiaSpace setzt auf das modulare Prometheus-Triebwerk – Isar Aerospace auf robuste Produktionsprozesse.
Der Aufbau moderner Infrastruktur bleibt Schlüsselthema: Während MaiaSpace bestehende Startplätze in Kourou nutzt, treiben Unternehmen wie Orbex und RFA die Entwicklung neuer europäischer Startplätze in Norwegen und Schottland voran. Diese Investitionen sollen Europas Flexibilität und Unabhängigkeit bei Raketenstarts langfristig sichern.
Expertenmeinungen und Perspektiven der Branche
ESA-Vertreter wie Industrieexperten bewerten die Challenge als Wendepunkt: Ein Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit statt „geografischer Verteilung“ soll Europas Raumfahrt zu mehr Tempo, geringeren Kosten und nachhaltiger Innovation führen. Diese Strategie macht den Kontinent fit für den internationalen Wettlauf im NewSpace-Sektor.
Fazit
Die ESA Launcher Challenge ist der Auftakt für einen grundlegenden Wandel in Europas Raketenstart-Strategie. Mit der Förderung von Startups wie Isar Aerospace, MaiaSpace, Rocket Factory Augsburg, PLD Space und Orbex investiert die ESA nicht nur in hochmoderne Trägersysteme, sondern in mehr Unabhängigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft für Europas künftige Raumfahrtambitionen. Ob durch Wiederverwendbarkeit, neue Antriebstechnologien oder den Aufbau leistungsfähiger Startinfrastruktur – diese Unternehmen könnten Europas führende Rolle beim kommerziellen Zugang ins All zurückerobern. Die kommenden Entscheidungen werden international beachtet: Europa hebt ab in eine neue Ära kommerzieller Raumfahrt.
Quelle: arstechnica
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