Ein radikal neu geschriebener genetischer Code

Ein radikal neu geschriebener genetischer Code

0 Kommentare

5 Minuten

Ein radikal neu geschriebener genetischer Code

Forscher am Medical Research Council Laboratory of Molecular Biology (MRC LMB) im Vereinigten Königreich haben einen synthetischen Stamm von Escherichia coli entwickelt, genannt Syn57, dessen Genom lediglich 57 der 64 standardmäßigen Codons nutzt, die das Leben auf der Erde bestimmen. Durch die komplette Neugestaltung des genomischen 'Skripts' komprimierte das Team den kanonischen genetischen Code und konnte zeigen, dass eine lebende Zelle mit einem deutlich reduzierten Codon‑Satz funktionsfähig bleibt — ein Meilenstein, der neue Wege für die Erweiterung des genetischen Codes, die industrielle Biotechnologie und die Biosicherheit eröffnet.

Wissenschaftlicher Hintergrund: Was sind Codons und warum sind einige redundant?

Der genetische Code überträgt DNA‑ und RNA‑Sequenzen in Proteine mithilfe von 64 Codons, wobei jedes Codon aus drei Nukleotiden besteht. Diese Dreiergruppen geben der Zelle vor, welche Aminosäure bei der Proteinsynthese als Nächstes eingebaut werden soll und wann die Translation beendet werden muss. Da natürliche Organismen nur 20 Aminosäuren zur Proteinsynthese verwenden, existieren zahlreiche synonyme Codons — unterschiedliche Tripletts, die dieselbe Aminosäure codieren. Diese Redundanz hat sich über Milliarden Jahre Evolution erhalten, bietet aber gleichzeitig eine gestalterische Chance: Lassen sich bestimmte Codons entfernen, ohne die Zellfunktion zu zerstören, könnten die so "freigewordenen" Codons für neue biochemische Aufgaben umgewidmet werden.

Genom neu schreiben: Wie Syn57 entstand

Das MRC LMB‑Team erzeugte Syn57, indem es das gesamte Genom des Bakteriums neu entwarf und synthetisierte. Systematisch entfernten sie ausgewählte redundante Codons und ersetzten diese durch synonyme Alternativen. Konkret eliminierte die Gruppe vier von sechs Serin‑Codons, zwei von vier Alanin‑Codons sowie ein Stopp‑Codon im gesamten Genom. Für die Realisierung der 57‑Codon‑Architektur waren mehr als 101.000 gezielte Nukleotidänderungen erforderlich.

Die Umgestaltung wurde zunächst in silico geplant und dann in mehreren Etappen umgesetzt: Das Genom wurde in etwa 100 Kilobasen große Fragmente zerlegt, diese Fragmente synthetisiert, in lebenden Wirten getestet und schrittweise zusammengefügt. Diese stufenweise Validierung verringerte das Risiko tödlicher oder schädlicher Veränderungen. Wie bei groß angelegter Genom‑Ingenieurtechnik üblich, stieß das Team auf Unsicherheiten und Rückschläge — doch die sorgfältige Prüfung einzelner Zwischenkonstrukte ermöglichte schließlich die Assemblierung des vollständig synthetischen Syn57‑Stamms.

Technischer Meilenstein

Syn57 übertrifft den bisherigen Rekord eines 61‑Codon‑Genoms. Durch die Kompression auf 57 Codons schufen die Forschenden sieben freie Codons im Vergleich zum vollen 64‑Codon‑Repertoire. Damit ist Syn57 das bisher am weitesten umkodierte Lebewesen und belegt, dass Leben eine deutlich komprimierte genetische Blaupause toleriert.

Wesentliche Erkenntnisse, Anwendungen und Folgen

Eine unmittelbare wissenschaftliche Möglichkeit, die sich aus der Codon‑Kompression ergibt, ist die Erweiterung des genetischen Codes. Mit weniger genutzten nativen Codons lassen sich freigewordene Codons neu zuordnen, um nicht‑kanonische Aminosäuren oder synthetische Bausteine zu codieren. Solche neuartigen Reste können verwendet werden, um neue Polymere, Makrozyklen und designerische Proteine mit Eigenschaften zu erzeugen, die in der Natur nicht vorkommen. Nach Angaben des Teams liefert Syn57 "mehr Raum, um weitere nicht‑kanonische Aminosäuren einzuführen", was potenziell innovative synthetische Chemien und Therapeutika ermöglicht.

Eine weitere große Auswirkung betrifft die Biosicherheit. Ein Genom, das vom kanonischen Code abweicht, kann für natürliche Viren und mobile genetische Elemente effektiv unlesbar werden, da diese auf das Übersetzungssystem des Wirts angewiesen sind. Diese translatorische Inkompatibilität könnte eine eingebaute Resistenz gegenüber Infektionen verleihen und das Risiko viraler Kontaminationen in industriellen Fermentationen verringern. Durch Umkodierung entsteht zudem ein Mechanismus zur genetischen Eindämmung: der horizontale Transfer von genetischem Material von Syn57 in natürliche Mikroben würde wahrscheinlich zu nicht‑funktionalen Proteinen führen und so die Ausbreitung gentechnisch veränderter Gene in Ökosysteme erschweren.

Vorteile für Industrie und Forschung

Für die industrielle Biotechnologie könnten Syn57‑ähnliche Stämme wirtschaftliche Risiken großer mikrobieller Proteinproduktion senken, indem sie die Wahrscheinlichkeit viraler Ausbrüche reduzieren. In der akademischen Forschung bietet ein umkodierter Chassis eine flexible Plattform, um Innovationen der synthetischen Biologie einzuführen und gleichzeitig die ungewollte Interaktion mit natürlichen Organismen zu begrenzen.

Expert*innen‑Einschätzung

Dr. Laura Chen, eine Forscherin im Bereich der synthetischen Biologie (fiktiv), kommentiert: "Die Reduktion eines Genoms auf 57 Codons ist eine herausragende Leistung in Design und Assemblierung. Sie zeigt, dass Genom‑Synthese Leben in zuvor unerforschte Bereiche des ‚Sequenzraums‘ verlagern kann. Praktisch bietet dies Ingenieurinnen und Ingenieuren ein sichereres, besser kontrollierbares Chassis für den Einsatz nicht‑natürlicher Chemien. Die ethischen und ökologischen Folgen verlangen weiterhin sorgfältige Aufsicht, doch der technische Machbarkeitsnachweis ist überzeugend."

Zukünftige Aussichten und Herausforderungen

In Zukunft werden Forschende die langfristige Stabilität von Syn57, dessen Wachstumsleistung unter unterschiedlichen Bedingungen und die Verträglichkeit für die Einbindung nicht‑kanonischer Aminosäuren untersuchen. Zu den Herausforderungen zählen der Erhalt der Fitness nach großflächiger Umkodierung, die Skalierung der Produktion sowie der Aufbau robuster regulatorischer und biosicherheitsrelevanter Rahmenbedingungen, die Freisetzung in die Umwelt, Dual‑Use‑Risiken und öffentliche Bedenken adressieren.

Fazit

Syn57 markiert einen Meilenstein in der Genom‑Synthese und im Engineering des genetischen Codes: ein lebender Bakterienstamm, der so konstruiert wurde, dass er mit nur 57 Codons arbeitet. Diese Leistung beweist, dass Leben eine beträchtliche Codon‑Kompression verträgt, und schafft Gelegenheiten, die Biologie mit nicht‑kanonischen Aminosäuren zu erweitern, industrielle Bioprozesse robuster zu machen und genetische Eindämmungsmechanismen einzubauen. Während Forschende diese Technologien weiter verfeinern, wird sorgfältige Verantwortung unerlässlich sein, um die Vorteile zu nutzen und ethische sowie ökologische Risiken zu steuern.

Quelle: science

Kommentare

Kommentar hinterlassen