DNA enthüllt: Krankheiten bei Napoleons Russlandfeldzug 1812

Neue aDNA-Analysen aus Vilnius zeigen, dass Paratyphus und läuseübertragenes Rückfallfieber zur Katastrophe von Napoleons Rückzug 1812 beitrugen. Metagenomik, Archäologie und historische Quellen ergänzen die Erkenntnisse.

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DNA enthüllt: Krankheiten bei Napoleons Russlandfeldzug 1812

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Neue DNA-Analysen von Zähnen aus Massengräbern bei Vilnius schreiben die medizinische Geschichte von Napoleons Rückzug aus Russland 1812 neu. Statt des in zeitgenössischen Berichten häufig genannten Fleckfiebers wiesen Forschende genetische Spuren von Paratyphus und dem von Läusen übertragenen Rückfallfieber nach – Infektionen, die den Zusammenbruch einer bereits erschöpften Armee wahrscheinlich beschleunigten. Diese Erkenntnisse verbinden Archäologie, historische Quellen und moderne Genomik und eröffnen neue Perspektiven auf die Rolle epidemischer Krankheiten bei militärischen Katastrophen.

Alte Genome erzählen eine andere Geschichte

Im Jahr 2001 förderten Archäologen nahe Vilnius, Litauen, Dutzende Verstorbene in Massengräbern zutage – Überreste der multinationalen Grande Armée, die Ende 1812 von Moskau abzog. Zeitgenössische Militärärzte beschrieben Symptome wie hohes Fieber, Kopfschmerzen und Hautausschläge, die mit epidemischem Fleckfieber (Typhus) vereinbar sind, doch eine aktuelle metagenomische Untersuchung anhand von antiker DNA (aDNA) zeichnet ein differenzierteres Bild. Die Analyse verbindet Befunde aus der Archäologie mit molekularen Daten und zeigt, wie vielseitig die Krankheitslast gewesen sein könnte.

Die Forschenden isolierten genetisches Material aus dem Zahnschmelz und dem Dentinkanal von 13 Soldaten und durchsuchten die Proben gezielt nach Pathogen-DNA. Die metagenomische Strategie bestand darin, sämtliche DNA in einer Probe zu sequenzieren und die gewonnenen Sequenzen mit großen Referenzdatenbanken bekannter Mikroorganismen abzugleichen. Dadurch konnten die Wissenschaftler Nachweise für Salmonella enterica, den Erreger des Paratyphus, sowie für Borrelia recurrentis, den Erreger des läuseübertragenen Rückfallfiebers, identifizieren. Bemerkenswert ist, dass kein DNA-Nachweis von Rickettsia prowazekii gelang, dem klassischen Erreger des epidemischen Typhus, was die Vorstellung herausfordert, dass Typhus allein die Hauptursache vieler Todesfälle war.

Der Rückzug von Napoleons Armee aus Russland 1812. (Ary Scheffer)

Warum diese Infektionen wichtig waren

Paratyphus, hervorgerufen durch bestimmte Subtypen von Salmonella enterica, verursacht hohes Fieber sowie schwere gastrointestinale Beschwerden, die die Leistungsfähigkeit und das Immunsystem stark beeinträchtigen können. In Kombination mit extremer Kälte, Hunger und Erschöpfung – Zustände, die für den Rückzug charakteristisch waren – führt Paratyphus schnell zu Schwäche, Dehydratation und erhöhter Sterblichkeit. Borrelia recurrentis wird durch Körperläuse übertragen und löst wiederkehrende Fieberschübe, starken Schwächegrad und ausgeprägte Malaise aus. Die Übertragung durch Läuse begünstigt enge Lagerverhältnisse und schlechte Hygiene, wie sie in Armeen auf dem Rückzug vorkamen.

Selbst wenn diese Infektionen nicht in jedem Fall unmittelbar tödlich waren, hätten sie die körperliche Widerstandskraft, Mobilität und Moral der Truppen massiv reduziert. In einer Situation, in der Nachschub, Unterkunft und medizinische Versorgung zusammenbrachen, reichten solche Krankheiten aus, um das die Armee schwächende Zusammenspiel aus Unterernährung, Erfrierungen und weiteren infektiösen Belastungen zu verschärfen. Epidemiologisch betrachtet können multiple, koexistierende Pathogene zu Synergien führen: Komorbidität erhöht die Sterblichkeit, und parallele Ausbrüche verschiedener Erreger erschweren die Identifikation und Eindämmung der Krankheitsursachen.

„Moderne Sequenzierverfahren ermöglichen es, Infektionen zu diagnostizieren, die seit zwei Jahrhunderten verborgen waren“, erklärt Nicolás Rascovan vom Institut Pasteur, einer der beteiligten Metagenomik-Forschenden. Die Studie, die in Current Biology veröffentlicht wurde, plädiert dafür, dass das plausibelste Szenario multifaktoriell ist: Erschöpfung, extreme Kälte, Hunger und mindestens zwei infektiöse Erkrankungen wirkten zusammen und führten zu massiven Verlusten. Solche komplexen Krankheitsbilder lassen sich am besten durch die Kombination archäologischer Befunde, historischer Quellen und molekularer Analysen rekonstruieren.

Der Fundkontext stützt eine nicht-kampfbedingte Erklärung für viele Todesfälle. Mehrere Körper lagen noch in Uniformen oder neben Ausrüstung und Pferden, und der relative Mangel an Waffenfunden deutet darauf hin, dass viele Soldaten an Krankheit und Aussetzung starben statt durch Kampfhandlungen. Die Grabbefunde, die Pathogen-Nachweise und die historischen Berichte ergänzen sich somit zu einem konsistenten Bild, das die Bedeutung von Seuchen als treibende Kraft im Scheitern militärischer Operationen hervorhebt.

Begrenzungen der Beweise und nächste Schritte

Die Forschenden mahnen jedoch zur Vorsicht: Ergebnisse aus 13 Proben können nicht repräsentativ für die gesamte Armee sein. In den Massengräbern bei Vilnius ruhen über 3.000 Tote, und andere Historiker und Mediziner weisen darauf hin, dass die überlieferten Symptome für einen Teil der Opfer weiterhin mit epidemischem Fleckfieber vereinbar sind. Um die epidemiologische Landschaft des Rückzugs vollständig zu kartieren, sind deutlich größere Stichproben, repräsentative Probenahmestrategien und die Kombination genetischer Daten mit schriftlichen Quellen und forensischer Skelettanalyse erforderlich.

Zukünftige Forschungsarbeiten könnten tiefere metagenomische Sequenzierung anwenden und gezielte Enrichment-Techniken (z. B. Capture-basierte Anreicherung) einsetzen, um Pathogen-DNA mit geringer Häufigkeit wiederherzustellen. Ergänzend liefern isotopische Analysen Informationen zu Ernährung, geographischer Herkunft und Mobilität der Verstorbenen, während paläopathologische Untersuchungen an Knochen und Zähnen Hinweise auf chronische Erkrankungen, Traumata oder Mangelzustände geben. Wichtig sind dabei auch strenge Protokolle zur Authentifizierung antiker DNA (z. B. Nachweis typischer Schädigungsmuster durch postmortale Degradation, Fragmentlängenprofil und sorgfältige Kontaminationskontrolle), damit die genetischen Befunde belastbar bleiben.

Methodisch erfordern derart historische Pathogen-Analysen besondere Sorgfalt: aDNA ist oft stark fragmentiert und chemisch verändert, moderne Kontaminationen sind real und Referenzdatenbanken können Lücken aufweisen. Deshalb ist die Kombination verschiedener analytischer Ebenen – Archäologie, historische Epidemiologie, Genomik, Isotopie und Paläopathologie – der beste Weg, um robuste Schlussfolgerungen zu ziehen. Interdisziplinäre Projekte, die lokale Archive, Feldarchäologie und modernste Laboranalytik verknüpfen, werden die Herkunft und Ausbreitung von Erregern innerhalb militärischer Kontexte präziser rekonstruieren.

Langfristig können solche Studien das Verständnis historischer Seuchen deutlich schärfen und zugleich Erkenntnisse für die moderne Seuchenforschung liefern. Die Rekonstruktion von Erregernetzwerken in historischen Populationen – etwa die Identifikation von Reservoiren, Vektoren und Übertragungswegen – unterstützt nicht nur die Wissenschaftsgeschichte, sondern bietet auch Fallstudien zu den Bedingungen, unter denen multiple Stressoren Seuchendynamiken verstärken. Im Kontext des Napoleonischen Feldzugs zeigt sich, wie Umweltfaktoren, Logistikversagen und Infektionskrankheiten gemeinsam zu einer humanitären und militärischen Katastrophe führen können.

Die Kombination aus metagenomischer aDNA-Analyse und konventioneller Historik eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit, einzelne Fallgruppen innerhalb der Massengräber zu charakterisieren: Welche Einheiten waren besonders betroffen? Gab es geographische oder sozioökonomische Muster? Solche Fragen lassen sich beantworten, wenn genetische Daten mit Bestattungsformen, Uniformmerkmalen und Dokumenten wie Regimentslisten verknüpft werden. Auf diese Weise gewinnt man ein nuanciertes Bild davon, wie Infektionskrankheiten Mobilität, Moral und Überlebenschancen von Soldaten in extremen Krisensituationen beeinflussten.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass die neuen genetischen Befunde die gängige Hypothese, Typhus allein sei der Hauptverursacher der massiven Verluste gewesen, nicht zwingend vollständig widerlegen, wohl aber erweitern und vertiefen: Paratyphus und läuseübertragenes Rückfallfieber trugen offenbar wesentlich zur Krankheitslast bei. Die Forschung ist noch im Gange, und kommende, umfassendere Untersuchungen werden das Bild weiter verfeinern. Für die historische Epidemiologie, die Archäogenetik und die Militärgeschichte liefern diese Ergebnisse bereits jetzt wertvolle Einblicke in die komplexen Ursachen einer der verheerendsten Niederlagen der europäischen Geschichte.

Quelle: sciencealert

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