Wie Lebensstil das Gehirnalter beeinflussen kann: Studie

Neue Forschung zeigt: Lebensstil, Stressbewältigung und psychosoziale Faktoren beeinflussen das biologische Gehirnalter. Die Studie identifiziert sieben schützende Gewohnheiten und gibt praktische Empfehlungen zur Förderung der Gehirngesundheit.

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Wie Lebensstil das Gehirnalter beeinflussen kann: Studie

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Ihr kalendarisches Alter steht auf der Geburtsurkunde, aber das biologische Gehirnalter kann davon abweichen – manchmal um Jahre. Neue Forschungsergebnisse der University of Florida zeigen, dass alltägliche Entscheidungen und der Umgang mit Stress das Gehirn in MRT-Bildern jünger oder älter erscheinen lassen können. Diese Differenz zwischen „Gehirnalter“ und Kalenderalter liefert eine aussagekräftige Ganzhirn-Bildaufnahme der kognitiven Gesundheit und des neurobiologischen Alterns.

Ihr Gehirn altert nicht unbedingt im gleichen Tempo wie Ihr Körper. Neue Studien deuten darauf hin, dass Denkweise, Stress und Lebensstil die Geschwindigkeit des Gehirnalters still beeinflussen können. Credit: Stock

Was die Studie gemessen hat und warum das wichtig ist

Forscher der University of Florida begleiteten 128 mittelalte und ältere Erwachsene über einen Zeitraum von zwei Jahren; die meisten Teilnehmer lebten mit oder hatten ein erhöhtes Risiko für chronische muskuloskelettale Schmerzen im Zusammenhang mit Kniearthrose. Das Team nutzte strukturelle MRT-Scans, die mit Algorithmen des maschinellen Lernens analysiert wurden, um das jeweilige „Gehirnalter“ jeder Person zu schätzen. Indem sie das kalendarische Alter vom MRT-abgeleiteten Gehirnalter subtrahierten, berechneten die Forschenden eine sogenannte brain age gap (Gehirnalter-Lücke): eine einzelne Kennzahl, die wiedergibt, wie gesund das Gehirn insgesamt erscheint.

Warum eine einzelne Metrik? Gehirnregionen altern nicht isoliert voneinander. Schmerz, chronischer Stress und Lebenserfahrung wirken auf verteilte neuronale Netzwerke – vom präfrontalen Kortex über das limbische System bis zu weißen Substanzverbindungen. Eine zusammengesetzte Messgröße wie die brain age gap kann diese weitreichenden Effekte in einer interpretierbaren Zahl zusammenfassen. Gehirne, die älter aussehen als das chronologische Alter, sind mit erhöhten Risiken für Gedächtnisstörungen, Demenz und Alzheimer assoziiert. Daher ist diese Kennzahl für Früherkennung, Risikostratifizierung und Präventionsstrategien bedeutsam.

Siebene Schutzfaktoren, die mit jüngerem Gehirn in Verbindung stehen

Das zentrale Ergebnis: positive psychosoziale und verhaltensbezogene Merkmale standen mit jünger aussehenden Gehirnen im Zusammenhang. Das Forscherteam fasste sieben Faktoren zusammen, die sie als „schützend“ bezeichneten, weil höhere Werte mit einem geringeren Gehirnalter korrelierten. Jeder Faktor wurde mit validierten Fragebögen oder klinischen Messungen erfasst und auf einer einfachen Skala von 0–2 bewertet. Diese Faktoren stellen modifizierbare Lebensstilkomponenten dar, die für Prävention und Gesundheitsförderung relevant sind.

Liste der identifizierten Schutzfaktoren

  • Tabakkonsum: Nichtraucher erzielten die besten Werte; ehemalige Raucher lagen im Mittelfeld; aktuelle Raucher wiesen die niedrigsten Werte auf. Der Zusammenhang zwischen Rauchen und beschleunigtem neurodegenerativem Wandel ist in der Literatur mehrfach bestätigt.
  • Taille (Taillenumfang): Ein geringerer Taillenumfang (≤80 cm bei Frauen, ≤94 cm bei Männern) galt als besonders schützend und spiegelt eine günstigere Körperzusammensetzung und ein geringeres metabolisches Risiko wider. Viszerales Fett und metabolische Dysregulation stehen in Verbindung mit Entzündungsprozessen, die sich negativ auf Gehirnvolumen und kognitive Funktionen auswirken können.
  • Optimismus: Gemessen mit dem Life Orientation Test–Revised prognostizierte höhere Optimismuswerte ein jüngeres Gehirnalter. Psychologische Resilienz und positive Erwartungshaltungen können Stressantworten modulieren und damit neurobiologische Belastungen reduzieren.
  • Positive und negative Affekte: Häufigere positive Emotionen und weniger negative Emotionen (erfasst mit der Positive and Negative Affect Schedule) waren vorteilhaft. Negative Skalen wurden so umkodiert, dass geringere Belastung als schützend zählt. Affektbalance beeinflusst Neurotransmittersysteme, Stressachsen und Verhaltensmuster.
  • Wahrgenommener Stress: Niedriger wahrgenommener Stress (Perceived Stress Scale) war mit besserer Gehirngesundheit verbunden. Chronischer Stress erhöht Cortisolspiegel, beeinflusst Hippocampus-Volumen und kann neurodegenerative Prozesse begünstigen.
  • Soziale Unterstützung: Größere wahrgenommene Unterstützung durch Familie, Freunde und wichtige Bezugspersonen (Multidimensional Scale of Perceived Social Support) korrelierte mit jüngerer Gehirnalterung. Soziale Vernetzung wirkt als Schutzfaktor gegen Isolation, Depression und Stress.
  • Schlafqualität: Besserer Schlaf – also geringere beeinträchtigungsbezogene Schlafstörungen gemessen mit PROMIS-Instrumenten – war schützend. Schlaf beeinflusst Gedächtniskonsolidierung, amyloid- und tau-Proteinhomöostase sowie entzündliche Prozesse.

Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die die höchste Anzahl dieser Schutzfaktoren angaben, hatten zu Beginn der Studie im Durchschnitt Gehirne, die etwa acht Jahre jünger wirkten als ihr chronologisches Alter. Bedeutenderweise zeigte sich bei diesen Personen auch eine langsamere Zunahme des Gehirnalters über die folgenden zwei Jahre. Dieser Befund legt nahe, dass kumulative, positive Verhaltensweisen die Resilienz des Gehirns stärken können.

Kontext: Chronische Schmerzen, Stress und das Gehirn

Chronische Stressoren – darunter anhaltende Schmerzen, niedriger sozioökonomischer Status und begrenzte Bildung – standen in der Analyse mit älter aussehenden Gehirnen im Zusammenhang. Bei einigen Teilnehmenden ließen diese negativen Einflüsse im Laufe der Zeit nach, doch das stärkere Signal kam von den positiven Verhaltensweisen und psychosozialen Unterstützungen. Mit anderen Worten: Gesunde Gewohnheiten scheinen additiv zur Gehirnresilienz beizutragen, selbst in Anwesenheit andauernder Lebensbelastungen und Schmerzen.

Schmerz als chronischer Stressor verändert neuronale Netzwerke — er beeinflusst die Schmerzverarbeitung in kortikalen und subkortikalen Regionen, bleibt mit emotionalen Regulationsnetzwerken verbunden und kann langfristig Strukturveränderungen bewirken. Diese Mechanismen sind Teil dessen, wie chronische Schmerzen das Hirnalter erhöhen können.

„Das sind Dinge, über die Menschen zumindest ein gewisses Maß an Kontrolle haben“, sagte Jared Tanner, Ph.D., Research Associate Professor für klinische und Gesundheitspsychologie an der University of Florida und Co-Autor der Studie. „Man kann lernen, Stress anders wahrzunehmen. Schlechter Schlaf ist vielfach behandelbar. Optimismus lässt sich trainieren.“ Diese Aussage unterstreicht, dass Verhaltensinterventionen praktische Hebel bieten, um kognitive Gesundheit und Gehirnalter positiv zu beeinflussen.

Kimberly Sibille, Ph.D., Associate Professor für Physikalische Medizin und Rehabilitation und Hauptautorin des Berichts, fasste die praktische Schlussfolgerung zusammen: „Gesundheitsfördernde Verhaltensweisen sind nicht nur mit weniger Schmerzen und besserer körperlicher Funktion verbunden, sie scheinen die Gesundheit in additiver Weise auf einem bedeutsamen Niveau zu stärken.“

Praktische Implikationen für die Gehirngesundheit

Die Studie ergänzt wachsende Belege, dass Lebensstilmedizin eine wirksame Strategie für das Gehirn darstellt. Kleine, praktikable Veränderungen – mit erheblicher Wirkung auf Gehirngesundheit und Prävention neurodegenerativer Erkrankungen – umfassen das Aufgeben des Rauchens, Verbesserung der Schlafqualität, Reduktion des Taillenumfangs durch Ernährung und körperliche Aktivität, Stärkung sozialer Bindungen sowie systematisches Stressmanagement und die Förderung von Optimismus.

Für Klinik und Praxis bietet die brain age gap ein quantitatives Outcome, um die Wirkung von Interventionen zu verfolgen, die das Fortschreiten kognitiven Alterns verlangsamen sollen. Solche Biomarker können in randomisierten Studien, in Versorgungsforschung und in individualisierten Präventionsplänen eingesetzt werden, um patientenspezifische Fortschritte sichtbar zu machen.

Technologien wie strukturelle und funktionelle MRT kombiniert mit Methoden des maschinellen Lernens erlauben nuanciertere, personalisierte Assessments der Gehirngesundheit. Machine-Learning-Modelle nutzen Merkmale wie kortikale Dicke, Graue-Substanz-Volumen, weiße-materielle Integrität und Konnektivitätsmuster, um ein altersvorhergesagtes Profil zu erstellen. Wenn diese Werkzeuge breiter verfügbar werden, könnten sie genutzt werden, um zu evaluieren, wie verschiedene Interventionen – verhaltensbezogen, pharmakologisch oder rehabilitativ – das Tempo des Gehirnalters bei Individuen über die Zeit verändern.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist wichtig zu betonen, dass Korrelationsbefunde wie in dieser Studie nicht automatisch Kausalität nachweisen. Dennoch bieten sie solide Hypothesen für Interventionsstudien: Kombinationen aus Bewegung, Schlafoptimierung, sozialer Aktivität und Stressreduktion könnten synergistisch wirken und messbare neurobiologische Vorteile erzeugen. Die Integration von Biomarkern, Verhaltensmessungen und klinischen Endpunkten erhöht die Aussagekraft solcher Studien.

Was Sie heute ausprobieren können

  • Priorisieren Sie Schlafhygiene: Feste Schlaf-Wach-Zeiten, reduzierte Bildschirmzeit vor dem Zubettgehen und Abklärung sowie Behandlung möglicher Schlafstörungen (z. B. Schlafapnoe) verbessern die Schlafqualität und haben positive Effekte auf Gedächtnis und Gehirnstoffwechsel.
  • Aufbauen sozialer Routinen: Regelmäßiger Kontakt mit Freunden und Familie, Teilnahme an Gruppenaktivitäten oder ehrenamtliche Tätigkeit stärken das soziale Netz und reduzieren Einsamkeit – beides wichtige Faktoren für Gehirngesundheit und Stressreduktion.
  • Pflegen Sie Stressmanagement: Kurz tägliche Praktiken wie Achtsamkeit, kontrollierte Atmung, progressive Muskelentspannung oder kognitive Umstrukturierung können die wahrgenommene Stressbelastung senken und dadurch neuroendokrine Belastungen reduzieren.
  • Bewegen Sie sich sicher: Niedrig belastendes Ausdauer- und Krafttraining unterstützt Körperzusammensetzung und Stimmung, hilft beim Erreichen eines gesunden Taillenumfangs und fördert neuroplastische Prozesse.
  • Raucherentwöhnung angehen: Der Verzicht auf Tabak bringt breite gesundheitliche Vorteile, inklusive positiver Effekte auf neurovaskuläre Gesundheit und auf das Gehirnalter.

Diese Maßnahmen orientieren sich an evidenzbasierten Empfehlungen aus Bereichen der Präventivmedizin, Psychologie und Neurowissenschaft. Ein interdisziplinärer, individualisierter Ansatz – z. B. durch Zusammenarbeit von Hausärzten, Schlafmedizinern, Psychotherapeuten und Physiotherapeuten – kann die Umsetzung erleichtern und den stärksten Nutzen bringen.

Expertinnen-Einschätzung

Dr. Elena Morales, klinische Neurowissenschaftlerin und Wissenschaftskommunikatorin, kommentiert: „Diese Studie zeigt, dass das Altern des Gehirns nicht in Stein gemeißelt ist. Die brain age gap ist ein nützlicher, integrativer Indikator, der Lebensstil-Effekte auf neuronale Systeme erfasst. Ermutigend ist, dass viele Faktoren, die mit jüngeren Gehirnen verbunden sind, veränderbar sind – und Interventionen, die Schlaf, soziale Teilhabe und Stressreduktion kombinieren, möglicherweise synergetische Effekte haben.“

Die UF-Studie wurde in Brain Communications veröffentlicht und erweitert eine wachsende Literatur, die darauf hinweist, dass psychosoziale und verhaltensbezogene Faktoren messbare Einflüsse auf Gehirnstruktur und -funktion ausüben. Während weitere Forschung nötig ist, um kausale Zusammenhänge und die Wirksamkeit spezifischer Interventionen zu prüfen, ist die Botschaft klar: Alltägliche Gewohnheiten beeinflussen die biologische Uhr des Gehirns.

Für Fachpersonen im Gesundheitswesen liefert diese Arbeit zusätzliche Argumente, lebensstilbasierte Interventionen frühzeitig zu integrieren und multidimensionale Assessments (z. B. Messung von Stress, Schlaf, sozialer Unterstützung und biomedizinischen Risikofaktoren) in Routineuntersuchungen zu berücksichtigen. Für Betroffene zeigt sie, dass gezielte Änderungen erreichbar sind und potenziell substanzielle neurobiologische Vorteile bieten.

Zusammenfassend betont die Studie die Bedeutung von Prävention, Resilienzförderung und personalisierten Strategien für die Gehirngesundheit. Durch die Kombination moderner Bildgebungstechniken wie MRT, datengestützter Analysen mittels maschinellem Lernen und erprobter verhaltensorientierter Maßnahmen kann die Medizin künftig noch gezielter daran arbeiten, das Fortschreiten kognitiven Alterns zu verlangsamen und die Lebensqualität im Alter zu verbessern.

Quelle: scitechdaily

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