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Die Biologie des Alterns neu gedacht: Betrifft Inflammaging wirklich jeden?

Die Biologie des Alterns neu gedacht: Betrifft Inflammaging wirklich jeden?

2025-07-08
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Die Biologie des Alterns überdenken: Betrifft Inflammaging wirklich alle Menschen?

Jahrelang galt der Begriff „Inflammaging“—das allmähliche, anhaltende Ansteigen chronischer, niedriggradiger Entzündungen im Körper—als eine der Hauptursachen des Alterns. Diese anhaltende Entzündungsreaktion steht im Verdacht, zahlreiche altersbedingte Erkrankungen wie Herzkrankheiten, Demenz und Diabetes zu fördern. Neue, internationale Forschungsergebnisse, veröffentlicht in Nature Aging, stellen jedoch die Annahme infrage, dass eine zunehmende Entzündung im Alter bei allen Menschen unvermeidlich ist. Vielmehr deuten die Daten darauf hin, dass vor allem der moderne Lebensstil—und nicht allein die Biologie—das Entzündungsgeschehen antreibt.

Wissenschaftlicher Hintergrund: Die Rolle von Inflammaging und chronischen Erkrankungen

„Inflammaging“ beschreibt eine dauerhafte, niedriggradige Aktivierung des Immunsystems mit zunehmendem Lebensalter. Frühere Studien brachten diese Immunreaktion mit dem Abbau von Geweben und Organfunktionen in Verbindung, was die erhöhte Anfälligkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurodegenerative Leiden und Stoffwechselstörungen im Alter erklärt. Entzündungsmarker wie C-reaktives Protein (CRP) und Tumornekrosefaktor (TNF) gelten als klinische Indikatoren dieses Prozesses.

Allerdings stammt der Großteil des bisherigen Wissens aus Studien mit Bevölkerungen aus wohlhabenden, urbanisierten Ländern, geprägt von kalorienreicher Ernährung, Bewegungsmangel und geringerem Kontakt zu Infektionserregern. Bislang blieb unklar, ob das Muster des Inflammagings auch für Gesellschaften außerhalb industrialisierter Regionen gilt.

Bahnbrechende Vergleichsstudie: Vier Gemeinschaften, unterschiedliche Lebensstile

Die im Nature Aging veröffentlichte Studie ging dieser Frage nach und untersuchte mehr als 2.800 Erwachsene aus vier verschiedenen Bevölkerungsgruppen: ältere Erwachsene aus Italien und Singapur (als Vertreter industrialisierter Gesellschaften) sowie die Tsimane im bolivianischen Amazonasgebiet und die Orang Asli aus Malaysia (als Beispiele für indigene, traditionell lebende Gruppen).

Die Forscher analysierten Blutproben dieser Teilnehmenden und bestimmten darin ein breites Spektrum an Zytokinen—Proteinen, die eine zentrale Rolle bei der Immunantwort spielen. Ziel war es, festzustellen, ob die Entzündungsmarker, die im Westen typischerweise mit dem Alter ansteigen, auch bei Menschen mit traditioneller Lebensweise zunehmen.

Zentrale Ergebnisse: Inflammaging nicht in allen Bevölkerungen nachweisbar

Die Resultate waren erstaunlich. In Italien und Singapur bestätigten die Daten die bisherigen Modelle: Mit zunehmendem Alter stiegen die Werte für Entzündungsmarker wie CRP und TNF an, was mit einem erhöhten Risiko für chronische Erkrankungen wie Nieren- und Herzerkrankungen einherging.

Im Gegensatz dazu zeigte sich bei den Tsimane und den Orang Asli ein anderes Bild. In diesen indigenen Gruppen stiegen die typischen Entzündungsmoleküle nicht konsequent mit dem Alter an, noch standen erhöhte Entzündungswerte im Zusammenhang mit altersbedingten Erkrankungen. Bemerkenswert ist, dass die Tsimane, trotz häufigen Kontakts mit Parasiten und Infektionserregern und dementsprechend generell höherer Grundentzündung, im Alter sehr niedrige Raten an Herzkrankheiten, Demenz und Diabetes aufweisen—Erkrankungen, die in Ländern mit ausgeprägtem Inflammaging häufig sind.

Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass chronische Entzündungen im Alter bei Menschen mit traditioneller Lebensweise weitgehend fehlen können, selbst wenn sie häufiger Infektionserregern ausgesetzt sind.

Folgerungen: Zusammenspiel von Lebensstil, Umwelt und Evolution

Die Studie liefert damit einen wichtigen Hinweis: Das bei älteren Menschen in westlichen Ländern beobachtete Entzündungsgeschehen kann stärker durch Lebensstilfaktoren—zu hohe Kalorienzufuhr, Bewegungsmangel und wenig Immunherausforderungen—als durch unveränderbare biologische Vorgänge verursacht sein. Viele Fälle von chronischer Entzündung könnten also auf einen Widerspruch zwischen unserer Evolution und den Bedingungen des modernen Lebens zurückzuführen sein.

Denkbar ist auch, dass sich Inflammaging in anderen Formen manifestiert—zum Beispiel im Gewebe oder auf zellulärer Ebene—die mit den derzeitigen Methoden im Blut nicht zuverlässig erfassbar sind. Zur vollständigen Erfassung könnten künftig neue Biomarker und Technologien erforderlich sein.

Expertenstimmen und der Ruf nach globaler Forschung

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hinter der Studie betonen die Bedeutung einer global breit aufgestellten Alternsforschung. Dr. X (Erstautor, Institution) merkt an: „Ein Großteil unseres Wissens zur Biologie des Alterns basiert auf Daten von nur wenigen Bevölkerungsgruppen. Unsere Ergebnisse zeigen die große Bandbreite und Anpassungsfähigkeit des menschlichen Immunsystems—und mahnen zu mehr Vorsicht bei Verallgemeinerungen aus Westlichen Gesellschaften.“

Sie sprechen sich für die Entwicklung besserer Diagnoseverfahren zur Erkennung chronischer Entzündungen und für mehr Forschung in bislang wenig berücksichtigten Bevölkerungen aus. Dies könnte neue Schutzfaktoren gegen altersassoziierte Erkrankungen sichtbar machen und der Medizin neue Therapieansätze eröffnen.

Handlungsempfehlungen: Maßgeschneiderte Strategien notwendig

Wenn sich die Ergebnisse bestätigen, könnten sie die Diagnostik, Prävention und Behandlung von Alterskrankheiten grundlegend verändern. Methoden wie entzündungshemmende Medikamente, Ernährungsempfehlungen und Bewegungsprogramme, die auf westlichen Bevölkerungen basieren, sind möglicherweise nicht überall sinnvoll. Versuche, Entzündungen durch Lebensstilmaßnahmen oder Medikamente zu senken, könnten in traditionellen Gesellschaften unnötig oder gar schädlich sein.

Die Erkenntnisse verdeutlichen zudem, wie relevant der Kontext bei medizinischer Forschung ist. Öffentliche Gesundheitsstrategien und wissenschaftliche Schlussfolgerungen aus wohlhabenden, urbanen Bevölkerungsschichten lassen sich nicht ohne Weiteres auf die ganze Welt übertragen. Für eine effektive Präzisionsmedizin müssen kulturelle und ökologische Unterschiede berücksichtigt werden.

Fazit

Die Studie erweitert unser Verständnis des menschlichen Alterns erheblich, indem sie die Sichtweise von Inflammaging als universalen biologischen Prozess infrage stellt. Chronische Entzündungen im Alter sind vermutlich zumindest teilweise eine Folge moderner Umwelteinflüsse und Lebensgewohnheiten in industrialisierten Ländern. Zukünftig sollte die Alternsforschung auch vielfältige Lebensweisen einbeziehen—sowohl moderne als auch traditionelle. Nur so können wir das gesamte Spektrum des Alterns erfassen, bessere Biomarker entwickeln und wirksame Strategien gegen altersbedingte Krankheiten für alle Menschen finden.

Quelle: theconversation

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