KI, Kapital und Chancen: Wie Investoren das Baltikum sehen

Investoren aus UK, Nordics, Asien und Europa diskutieren auf der Startup Fair 2025 in Vilnius, wie KI Investitionen, Marktgrößen und Energiestrukturen verändert und welche Chancen das Baltikum bietet.

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KI, Kapital und Chancen: Wie Investoren das Baltikum sehen

10 Minuten

Auf der Startup Fair 2025 in Vilnius kam eine der meist erwarteten Diskussionsrunden zusammen: führende Investorinnen und Investoren aus dem Vereinigten Königreich, den nordischen Ländern, Asien und Europa sprachen über die Kräfte, die globale Investments prägen, über das Aufkommen der künstlichen Intelligenz als neuen Wirtschaftsmotor und was diese Verschiebungen für Gründerinnen, Gründer und Kapitalgeber im Baltikum bedeuten.

Teilnehmer und Aufbau der Debatte

Moderator: Donatas Keras, Founding Partner bei Practica Capital
Panelistinnen und Panelisten: Jaewoong Choi, Executive Vice President bei Woori Technology Investment; Rebecka Lothman Ryda, General Manager bei Norrsken Evolve; Guy Ward Thomas, Partner bei DN Capital; Mehmet Atici, Managing Partner bei Bek Ventures.

Startup Fair 2025 Bühne

Donatas Keras eröffnete die Session, begrüßte das Publikum und skizzierte den zweistufigen Ansatz der Diskussion: zuerst ein praktischer Blick auf AI-Startups — Wachstum, Monetarisierung und Bewertungslogiken —, danach ein strategisches Gespräch zur Rolle der KI in der Umgestaltung der globalen Wirtschaft und zu den Anpassungen, die Investoren vornehmen müssen.

Warum sind alle nach Vilnius gekommen?

Die Teilnehmer stellten sich vor und erklärten, warum das Baltikum aktuell so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Rebecka Lothman Ryda lobte die lebhafte Gründerkultur in Litauen und nannte den Markt dynamisch genug, um ernsthaft in den Fokus ihrer pre-seed-Strategie zu rücken. Ihr Fonds investiert in Nachhaltigkeit und Resilienz und arbeitet sehr hands-on mit frühen Teams.

Guy Ward Thomas von DN Capital erinnerte daran, dass sein Fonds seit 25 Jahren in Series-A-Runden investiert und kürzlich an Europas größtem AI-Exit beteiligt war, als Cognigy an NICE Systems verkauft wurde. Sein Ziel in Vilnius sei klar formuliert: die nächste große KI-Story finden.

Jaewoong Choi von Woori Technology Investment kam mit dem Blick auf globale Skalierung. Sein Fonds ist in Korea einer der größten VC-Investoren und sucht international wettbewerbsfähige Startups mit klarer Globalisierungsstrategie.

Mehmet Atici von Bek Ventures hob hervor, dass sein Team in vielen neuen Tech-Hubs Erfolge sah und dass kleinere Ökosysteme wie Vilnius durchaus das Potenzial haben, Deep-Tech- und KI-Perlen hervorzubringen. Sein Fonds investiert früh, auch in KI-Firmen, und sei überzeugt: Das Baltikum könnte ein Sprungbrett für die nächste Generation von Gewinnern werden.

Panel auf Startup Fair

Ist KI nur ein Enabler — oder schreibt sie ganze Branchen neu?

Die Debatte drehte sich schnell um die Kernfrage: Handelt es sich bei KI um eine inkrementelle Verbesserung bestehender Prozesse oder um eine tiefgreifende Systemveränderung?

Plattformverschiebung versus Hype

Rebecka sprach von einer Plattformverschiebung, aber auch von einer großen Diskrepanz zwischen eingesetztem Kapital und aktuellem Ertrag. Sie kritisierte den Fokus vieler Startups auf oberflächliche Sales-Tools statt auf Lösungen für drängende gesellschaftliche Probleme. Ihre Warnung: Viele Bewertungen spiegeln Erwartungen wider, die momentan nicht durch Umsätze gedeckt sind.

Guy ergänzte: KI sei definitiv eine Umstrukturierung, die Frage sei nur die Zeitachse. Manche Sektoren, etwa energieintensive oder stark regulierte Industrien, würden langsamer umgestellt als Software- oder datengetriebene Bereiche.

Jaewoong beschrieb KI als bereits bestehende Revolution mit enormer Durchdringung — vor allem, wenn KI und Robotik zusammenwirken. Mehmet hingegen blieb vorsichtiger: Er sieht derzeit viele Unternehmen, die KI als Werkzeug einsetzen, aber noch kein klares Zeichen für einen vollständigen Plattformwechsel. Seine Analogie zur frühen Datenbankära unterstrich, dass ein Hype noch nicht automatisch eine fundamentale Veränderung bedeutet.

Publikum bei Startup Fair

Wichtiges Detail: Die Panelisten hoben hervor, dass die derzeitigen Investitionen in AI-Infrastruktur extrem hoch sind, während die tatsächliche, heute realisierte Wertschöpfung noch deutlich zurückbleibt. Das heißt nicht, dass die Technologie unwirksam wäre, wohl aber, dass Investoren selektiver prüfen müssen, welche Geschäftsmodelle wirklich nachhaltig sind.

Wachstum, Metriken und was Investorinnen hören wollen

Die Frage nach Wachstum und Benchmarks war zentral für Gründerinnen und Gründer: Braucht es irre schnelle Skalierung, um überhaupt gefördert zu werden?

Die drei entscheidenden Signale

  • Retention – sowohl Brutto als auch Netto. Zeigt sich echte Bindung oder nur mangelnder Wettbewerb?
  • Bruttomarge – verkauft das Produkt echten Wert oder nur Margenkrieg?
  • Engagement – haben Kunden einen messbaren Nutzen, der wiederholt entsteht?

Guy argumentierte, dass diese drei Kennzahlen, kombiniert mit realem Umsatz, hohe Bewertungen rechtfertigen können. Rebecka warnte davor, Margen zu ignorieren mit dem Glauben, Technologie werde sie später automatisch verbessern. Mehmet betonte, dass in einem Umfeld ohne „Secret Sauce“ die klassischen SaaS-Grundregeln zurückkehren: Problemlösungstiefe, Sticky-ness und Geschwindigkeit der Anpassung entscheiden über Erfolg.

Ein besonders relevantes Stichwort war Vertical AI — also spezialisierte KI-Lösungen für eng definierte Branchen. Laut Mehmet bieten vertikale Ansätze aktuell den stärksten Wettbewerbsvorteil, weil sie tiefes Domänenwissen und spezialisierte Daten erfordern, die schwerer zu kopieren sind.

Diskussion über KPIs

Marktgröße neu denken — von TAM zu Task-basierten Modellen

Traditionelle Berechnungen des Total Addressable Market funktionieren in vielen Fällen nicht mehr. Guy schlug einen task-basierten Ansatz vor: Man müsse nicht nur bestehende Softwareausgaben betrachten, sondern auch die Ausgaben für menschliche Arbeit, die AI ersetzen oder effizienter machen kann. Dadurch ändert sich die Größe des adressierbaren Marktes grundlegend.

Seine praktische Formel: Welcher Task ist wie oft reproduzierbar, wie viel Effizienz bringt KI pro Task, und wie hoch könnte die Penetrationsrate sein? Das Produkt dieser Faktoren ergibt ein realistisches neues TAM. Das ist besonders wichtig für Startups, die nicht nur Software verkaufen, sondern Arbeitsprozesse transformieren wollen.

Rebecka ergänzte, dass Marktbildner — Unternehmen, die einen Markt erst erschaffen — enormes Potenzial bergen. Ein Beispiel aus ihrem Portfolio: Eine Firma, die eine KI-Schicht für Batteriesysteme in mittelgroßen Industrieanlagen entwickelt. Heute existiert dieser Markt faktisch noch nicht, doch das Potential zur Kostensenkung ist so groß, dass daraus ein echter Markt werden könnte.

Marktmodell auf Flipchart

Globale Konkurrenz: Europa zwischen den Giganten USA und China

Ein großer Teil der Diskussion drehte sich um geopolitische Fragen: Haben Europa und die baltischen Länder eine Chance gegen die massiv finanzierten Strategien der USA und Chinas?

Souveränität als Schlüsselbegriff

Jaewoong stellte das Konzept der souveränen KI vor, aufgeteilt in Daten-, Infrastruktur- und Fertigungssouveränität. Ohne eigene Modelle und Infrastruktur riskiere ein Land den Verlust von Governance und Kontrolle über kritische Daten. Korea verfolgt deshalb eigene Modellinitiativen, und auch Europa muss seine Rolle definieren.

Mehmet war pragmatischer: Europa sei in vielen Bereichen hinterher, und politische Diskussionen allein würden das Problem nicht lösen. Viel wichtiger sei es, praktische Chancen zu nutzen und Gründer zu ermutigen, global zu denken. Er empfahl, von Anfang an Märkte außerhalb Europas anzupeilen, weil die USA in den meisten Softwarekategorien deutlich größere Marktchancen bieten.

Guy fasste einen möglichen europäischen Vorteil zusammen: Europa müsse nicht in jedem Bereich mit fundamentalen Modellen konkurrieren. Die Stärke liege eher in der Anwendungsebene, in sicherer, regelkonformer KI mit guter Governance. Das sei ein wertvoller Differenzierer auf dem globalen Markt.

Globale Karte

Energiebedarf: Engpass, Risiko oder Chance?

Zum Ende der Session richtete der Moderator den Blick auf einen oft übersehenen Faktor: den steigenden Energieverbrauch durch KI-Infrastruktur. Die Frage war eindeutig: Droht ein Engpass im Stromnetz, oder eröffnet die Herausforderung neue Geschäftsfelder?

Vom Risiko zur Lösungsperspektive

Rebecka sah die Situation als Chance. Prognosen deuteten darauf hin, dass Regionen bis 2030 Engpässe erleben könnten. Das biete Raum für Innovationen: spezialisierte, energieeffiziente Modelle, effizientere Rechenzentren und eine stärkere Infrastruktur für dezentrale, souveräne AI-Lösungen. Sie warnte aber auch vor dem Jevons-Paradoxon — historisch führte Effizienzsteigerung oft zu höherem Verbrauch —, weshalb neben technologischer Effizienz auch Nachfrage- und Verbrauchssteuerung nötig sei.

Die Panelistinnen und Panelisten stimmten überein, dass Energiespeicher, smarte Laststeuerung, lokale Rechenzentren und Edge-Computing nicht nur technische Antworten sind, sondern auch attraktive Investmentfelder. Firmen, die den Energie-Fußabdruck von KI reduzieren oder intelligente Verteilungsmodelle anbieten, könnten in den kommenden Jahren besonders gefragt sein.

Rechenzentrum

Die Diskussion berührte viele praktische Punkte: von der Notwendigkeit effizienter Datenspeicherung über den Nutzen spezialisierter Modelle bis hin zu Governance-Fragen, die besonders für europäische Märkte relevant sind.

Was bedeutet das konkret für Gründerinnen und Gründer im Baltikum?

Mehrere klare Handlungsaufforderungen wurden genannt, die besonders für lokale Teams relevant sind:

  • Denken Sie vertical und domain-spezifisch. Tiefe Expertise schafft schwer kopierbare Moats.
  • Beweisen Sie frühe Kundenbindung und echte Margen, nicht nur Wachstumszahlen.
  • Planen Sie global und skaliere von Märkten mit hoher Kaufkraft, auch wenn der Start regional erfolgt.
  • Berücksichtigen Sie Energie- und Infrastrukturfragen schon in der Produktarchitektur.
  • Nutzen Sie Euroras Chancen bei Compliance-orientierten KI-Anwendungen und zeigen Sie, wie verantwortungsvolle KI praktisch funktioniert.

Abschließend betonten die Panelisten die Chancen, die im Baltikum schlummern: weniger Lärm, schnelle Iteration und die Möglichkeit, eines der nächsten outlier-getriebenen Startups hervorzubringen. Die Region habe sich in den Gesprächen als relevanter Akteur etabliert — nicht bloß als Nice-to-have, sondern als echter Teil der globalen Tech-Landschaft.

Moderator Donatas Keras schloss die Runde mit der Prognose, dass sich die Zusammensetzung der globalen Top-Unternehmen in den nächsten zehn Jahren erheblich verändern dürfte. Er fügte optimistisch hinzu, dass dies großartige Zeiten für Macherinnen und Macher seien. Mit Applaus endete eine der lebhaftesten Sessions der Startup Fair 2025.

Die Debatte hinterließ ein deutliches Signal: Wer im Baltikum heute gründet, sollte technologisch anspruchsvoll denken, global planen und die neuen Realitäten von KI, Energie und Marktdefinition aktiv in die Produkt- und Kapitalstrategie einbauen.

Quelle: smarti

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