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Auf Startup Fair Vilnius 2025 entfaltete sich auf der Core Stage eine der anregendsten Diskussionen des Events. Die Frage war futuristisch und zugleich zunehmend realistisch: Könnte die Welt bald ein milliardenschweres Unternehmen sehen, das von einer einzigen Person aufgebaut und betrieben wird – mit KI als einzigem Teammitglied?
Moderiert von Romanas Zontovičius, Leiter des AI Hub bei Innovation Agency Lithuania, versammelte die Sitzung eine prägnante Mischung aus Investoren und Gründern, um zu diskutieren, was der Aufstieg intelligenter Automatisierung für das Unternehmertum bedeutet. Zu den Panelteilnehmern gehörten Oksana Vodonos, Associate bei 500 Global, Gabrielė Kriaučionytė, CEO von Neurali, und Magnus Hambleton, Investor bei ByFounders. Gemeinsam analysierten sie die praktische, psychologische und ethische Dimension des Solo-Unternehmertums im Zeitalter der künstlichen Intelligenz.
Vom Tweet zur Realität: Die Idee des One-Person-Unicorns
Die Diskussion begann mit dem viralen Tweet, der die Session inspiriert hatte – ein Post, der spekulierte, dass bald das erste „One-Person-Unicorn“ auftauchen werde, angetrieben von künstlicher Intelligenz. Romanas gab zu, dass er der Idee seither aufmerksam folgte. „Alle paar Monate schaue ich wieder ins Netz — ist es schon passiert?“, sagte er zur Eröffnung. „Vielleicht ist die eigentliche Frage nicht, ob es möglich ist, sondern ob wir überhaupt eines brauchen."

Er wies auf die bisher größten Hindernisse für Solo-Gründer hin: Skalierbarkeit und operative Komplexität. „Startups brauchten historisch Teams für Betrieb, Marketing, HR und Kundensupport“, erklärte er. „Doch jetzt ist KI ins Spiel gekommen — und das verändert vieles.“ Diese Beobachtung unterstreicht, wie Automatisierung und Machine Learning traditionelle Geschäftsprozesse neu definieren und die Grenzen dessen verschieben, was eine einzelne Person leisten kann. Gleichzeitig bleibt die Herausforderung, nachhaltiges Wachstum zu gewährleisten.
Kann ein Gründer überall gleichzeitig sein?
Die Diskussion wandte sich Gabrielė Kriaučionytė zu, einer Biotech-Unternehmerin, die mehrere Unternehmen parallel führt, darunter Neurali, das mit KI die Wirkstoffforschung beschleunigt. Auf die Frage, wie sie mehrere Projekte gleichzeitig managt, antwortete sie, dass KI-Tools inzwischen unverzichtbar seien.
„Mit den heute verfügbaren Werkzeugen ist es möglich, mehrere Rollen zu übernehmen“, sagte sie. „Wir lagern so viele Aufgaben an KI aus. Wenn deine KI am Wochenende nicht mit Kunden kommuniziert, läuft etwas falsch.“ Diese Aussage hebt hervor, wie Automatisierung in Bereichen wie Kundenkommunikation, Terminplanung und Forschung die Arbeitslast einer Gründerperson reduzieren kann.

Kriaučionytė erklärte, sie teile ihre Aufmerksamkeit zwischen zwei Ventures: In einem agiere sie als kommerzielle CEO, im anderen als Produktverantwortliche. „Es ist ein Gleichgewicht zwischen Management- und Kreativaufgaben“, sagte sie. „Timing ist entscheidend — ein Projekt fliegt, ein anderes befindet sich in der frühen Phase. Dieser Rhythmus macht es handhabbar.“ Solche Arbeitsweisen zeigen, wie produktive Multitasking-Strategien kombiniert mit KI-Unterstützung die Effizienz von Holistic-Founding-Modellen steigern können.
Ihre Perspektive spiegelte eine wachsende Realität im Tech-Ökosystem wider: Intelligente Assistenten übernehmen inzwischen Aufgaben, für die früher ganze Abteilungen nötig waren — von Kommunikation und Kalenderkoordination bis zu Recherche und Produktiteration. Diese Entwicklungen haben direkte Auswirkungen auf Geschäftsmodelle, Personalplanung und Innovationszyklen.
Die Sicht der Investoren: Wie klein kann ein Startup sein?
Die Investoren auf dem Panel brachten Vorsicht und Realismus ein. Magnus Hambleton von ByFounders, einem Fonds mit rund €110 Millionen, sagte, man investiere regelmäßig in frühe Teams von zwei oder drei Personen, aber die Idee eines Solo-Gründer-Unicorns bleibe weitgehend theoretisch.
Er nannte Beispiele wie Thinking Machines und SAIF Superintelligence, beide gegründet von Ex-OpenAI-Exekutiven und mit Milliardenbewertungen fast sofort. „Technisch gesehen würden sie, wäre es eine Ein-Personen-Gründung, die Beschreibung erfüllen“, sagte er. „Aber sie hatten alle Mitgründer. Ein echtes One-Person-Unicorn haben wir noch nicht gesehen.“ Hambleton betonte damit die Rolle von Gründerteams bei der Risikominderung und beim Aufbau von Vertrauen bei Investoren.

Für Hambleton ist der limitierende Faktor weniger die Technologie als die Skalierung. „Auf Unicorn-Niveau generiert man üblicherweise Umsätze in zweistelligen bis dreistelligen Millionenbereichen“, sagte er. „Ab diesem Punkt sind die Kosten für die Einstellung auch nur einer Person im Vergleich zum Umsatz vernachlässigbar. Es lohnt sich fast immer, Teile der CEO-Aufgaben zu delegieren.“ Diese ökonomische Perspektive erklärt, warum Investoren bei hoher Skalierung auf Teamverstärkung setzen.
Oksana Vodonos von 500 Global stimmte dem zu. Ihre Firma, die über $2,3 Milliarden verwaltet und mehr als 3.000 Portfoliounternehmen betreut, hat bisher noch keinen Solo-Gründer finanziert. „KI kann Aufgaben ersetzen“, sagte sie, „aber nicht Vision, Antrieb oder Strategie. Einen Mitgründer zu haben bedeutet nicht nur Arbeit zu teilen — es bedeutet, einen Gegenpart für Ideen und Durchhaltevermögen zu haben. Das kann KI derzeit noch nicht replizieren.“ Diese Sicht unterstreicht, dass menschliche Entscheidungsprozesse und Führungsqualitäten weiterhin zentral für Investitionsentscheidungen sind.
Die psychologischen und menschlichen Grenzen
Kriaučionytė stimmte zu, dass emotionale Resilienz eine Lücke ist, die Maschinen nicht füllen. „Es gibt so viele Tage, an denen die Dinge nicht laufen wie geplant“, sagte sie. „Einen Mitgründer zu haben, der dich emotional unterstützt, ist unersetzlich. Solange KI nicht ein Niveau erreicht, das menschliche Kameradschaft leisten kann, bleibt Solo-Founding emotional sehr schwierig.“ Dieses Argument hebt die Bedeutung von zwischenmenschlicher Unterstützung, Mentoring und psychologischer Sicherheit im Gründeralltag hervor.

Sie prognostizierte jedoch eine nahe Zukunft, in der KI-basierte persönliche Assistenten mit nahezu autonomer Arbeitsweise agieren. „Ich träume von einer Assistenz, die alles für mich erledigt“, sagte sie. „Im Moment reden unsere AIs ständig miteinander. Es fühlt sich bereits so an, als würde man ein 50-köpfiges Team managen.“ Diese Entwicklung ist ein Beispiel dafür, wie orchestrierte KI-Systeme operative Aufgaben effizient übernehmen können, während der Mensch strategische Leitlinien vorgibt.
Wann würde ein Investor €100 Millionen auf eine Person setzen?
Romanas stellte ein hypothetisches Szenario: „Was müsste passieren, damit Sie €100 Millionen in einen einzigen Gründer investieren?“
Hambleton lachte. „Nun, für mich persönlich würde das gegen die Regelwerke meines Fonds verstoßen — und wahrscheinlich ins Gefängnis führen“, scherzte er, bevor er ernst wurde. „Aber wenn ich an einen sehr großen Fonds denke, gäbe es nur einen Grund: Der Erfolg müsste nahezu garantiert sein — nahe 100% Wahrscheinlichkeit.“ Diese scharfe Bedingung macht klar, wie risikoscheu große Investoren in Bezug auf Einzelpersonen sind, selbst bei bahnbrechenden Technologien.

Er erläuterte, dass eine solche Sicherheit nur mit wirklich transformativer Technologie kommen würde. „Wenn wir eine allgemeine künstliche Intelligenz erreichen, die alle Arbeitsprozesse automatisieren kann, sprechen wir von einem globalen Markt im Bereich von vielen Billionen jährlich“, sagte er. „Diese Größenordnung rechtfertigt nahezu jede Bewertung.“ Die Aussage verweist auf langfristige makroökonomische Implikationen von Artificial General Intelligence (AGI) für Märkte und Investitionsstrategien.
Vodonos fügte hinzu, dass für sie kleinere Investments an Solo-Gründer realistischer, aber dennoch selten seien. „Wir müssten verstehen, warum diese Person glaubt, kein Team zu brauchen“, sagte sie. „Liegt es daran, dass alles automatisierbar ist — oder daran, dass sie nicht in der Lage sind, gutes Talent zu rekrutieren? Ich möchte einen klaren Plan sehen, wie KI in diese Struktur passt.“ Diese Forderung nach nachvollziehbarer Strategie ist ein zentraler Aspekt der Due Diligence bei KI-getriebenen Geschäftsmodellen.
Die menschliche Seite künstlicher Ambition
Das Panel verlagerte den Fokus von Venture-Ökonomie auf menschliche Motivation. Romanas fragte, ob KI-getriebenes Unternehmertum ausschließlich Effizienz bedeute oder ob Menschen weiterhin Zusammenarbeit suchten.
Kriaučionytė antwortete philosophisch. „Wir werden immer menschliche Verbindung brauchen“, sagte sie. „Ich rede mit ChatGPT wie mit einem Therapeuten, aber das reicht nicht. Musik, Kunst, Empathie — das ist zutiefst menschlich. Die Herausforderung besteht darin, KI so zu gestalten, dass sie uns hilft, besser zu leben, nicht nur schneller.“ Damit betonte sie die Notwendigkeit von menschenzentrierter KI-Entwicklung und UX-Design, die über reine Effizienz hinausgeht.
Vodonos stimmte zu und ergänzte, dass der Einsatz von KI-Tools bereits zur Basiserwartung für Wettbewerbsfähigkeit geworden sei. „Wer heute ohne KI baut, fällt zurück“, sagte sie. „Gründer können inzwischen Prototypen erstellen, Hypothesen testen, Marketing durchführen und sogar Vertrieb automatisieren. Die Geschwindigkeit ist enorm.“ Diese Einschätzung hebt die Bedeutung von KI-Kompetenzen für Gründer und Unternehmen hervor.

Was definiert einen erfolgreichen Gründer im KI-Zeitalter?
Als die Diskussion an Tiefe gewann, wurde Romanas wieder philosophisch: „Mit all diesen neuen Werkzeugen und Möglichkeiten — was bedeutet Erfolg für einen Gründer heute? Geht es um Geld, Effizienz oder etwas anderes?“
Für Gabrielė Kriaučionytė blieb Erfolg eine Mischung aus messbaren Ergebnissen und innerer Widerstandskraft. „Zwei Dinge“, sagte sie. „Erstens finanzieller Erfolg — ich will keine Produkte bauen, die niemand nutzt. Und zweitens, wie du Krisen meisterst. Jeder Gründer trifft auf schwarze Löcher im Geschäft; sie zu überstehen definiert Erfolg.“ Resilienz, Kundenorientierung und Nutzungsmetriken bleiben demnach zentrale Erfolgskriterien im Startup-Ökosystem.
Magnus Hambleton fasste es aus Investorensicht zusammen. „Erfolg hängt von der Perspektive ab“, sagte er. „Wenn du ein kleines Unternehmen führst und glücklich lebst, ist das Erfolg. Für uns Investoren geht es aber um Skalierung. Um eine Milliardenbewertung zu erreichen, brauchst du eine einzigartige Vision der Zukunft und die Fähigkeit, etwas aufzubauen, das niemand sonst kann.“
Oksana Vodonos fügte eine menschliche Komponente hinzu: „Für uns sind die Gründer, die wir unterstützen, ambitioniert, leidenschaftlich und demütig. Diese Eigenschaften lassen uns zustimmen.“ Diese Kombination aus Vision, Execution und Persönlichkeit ist oft ausschlaggebend für Investitionsentscheidungen.
Ethik, Empathie und das KI-Dilemma
Vor dem Abschluss griff der Moderator noch einmal die ethische Dimension des KI-getriebenen Unternehmertums auf. „Bauen wir KI für Effizienz oder, um das Leben wirklich besser zu machen?“, fragte er.

Kriaučionytė wies darauf hin, dass Automatisierung Unternehmen zwar schneller und schlanker machen könne, aber keinen Ersatz für Sinn stifte. „KI sollte dazu dienen, jedem Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen“, sagte sie. „Doch die Struktur der Gesellschaft heute führt uns nicht zwangsläufig dorthin.“ Damit forderte sie eine breitere gesellschaftliche Debatte über Werte, Regulierung und Fairness in der KI-Entwicklung.
Vodonos bemerkte, dass wir uns inzwischen in einer „Post-Hype“-Phase befinden. „Die anfängliche Faszination für KI verblasst“, sagte sie. „Wir verstehen jetzt besser ihr praktisches Potenzial — nicht als Magie, sondern als Hebel. Gründer, die KI heute nicht integrieren, entscheiden sich bewusst dafür, weniger wettbewerbsfähig zu bleiben.“ Diese nüchterne Perspektive unterstreicht, wie KI als strategisches Element in Geschäftsmodellen verankert werden muss.
Jenseits von Kapital: In Menschlichkeit investieren
Das Panel berührte auch persönliche Werte und Ethik im Unternehmertum. Romanas hob Hambletons Engagement hervor, 10% seines Einkommens für Effective-Altruism-Zwecke zu spenden, und fragte nach dessen Motivation.
„Ich unterstütze Wohltätigkeitsorganisationen, die pro ausgegebenem Dollar den messbar größten Effekt erzielen“, erklärte Hambleton. „Zum Beispiel verteilt die Against Malaria Foundation Moskitonetze, um Kinderleben zu retten, und GiveDirectly überweist Geld direkt an Bedürftige. Statistisch kann man für etwa €2000 ein Leben retten — das ist ungemein bedeutsam.“ Diese Anekdote verknüpft technologische Ambition mit ethischer Verantwortung und sozialen Auswirkungen.

Das Publikum reagierte mit Applaus und würdigte damit die Verbindung von Technologie, Zweck und Mitgefühl, die das Gespräch erreicht hatte.
Wenn Musik auf Machine Learning trifft
Die Sitzung nahm eine leichtere Wendung, als Romanas Kriaučionytė nach ihrer Nebentätigkeit als Musikerin CLAIÄ fragte. „Wir haben bereits KI-generierte Songs“, sagte er. „Könnten wir Musik vollständig personalisiert sehen — ganze Bands nur für einen Hörer kreiert?“
„Ich glaube, das passiert bereits“, antwortete sie. „Ich weiß von Künstlern, die Verträge mit Sony unterschreiben, um KI-Personas zu entwickeln. Personalisierte Musik ist beeindruckend, aber als Hörer brauche ich immer noch den Menschen dahinter. Ich will mich mit ihrer Geschichte verbinden. KI kann Hintergrundmusik komponieren, aber Emotion braucht weiterhin eine Person.“ Diese Einschätzung betont, dass KI kreative Arbeit ergänzen kann, ohne die menschliche Ausdruckskraft zu ersetzen.
Ihre Perspektive zeigte, wie KI kreative Prozesse verstärken kann, indem sie Individualität hervorhebt anstatt sie zu nivellieren. Daraus ergeben sich neue Chancen für Musikindustrie, Urheberrecht und Monetarisierungsmodelle.
Wird es jemals ein One-Person-Unicorn geben?
Als sich die Sitzung dem Ende näherte, richtete Romanas die unvermeidliche Abschlussfrage an Oksana Vodonos: „Wann werden wir endlich ein Ein-Personen-Unternehmen mit Milliardenbewertung sehen?“
Vodonos lächelte. „Beten wir gemeinsam dafür, es zu sehen“, sagte sie. „Ich bin sehr neugierig, aber wir wissen nicht, wann. Warten wir ab, bauen wir und entwickeln wir das Ökosystem, das so etwas möglich machen könnte.“ Diese geduldige Haltung reflektiert die Realität, dass technologische Reife, Marktstruktur und regulatorische Rahmenbedingungen zusammentreffen müssen, damit ein solches Phänomen eintreten kann.

Das Publikum lachte und applaudierte und schloss damit eine der vorausschauendsten und philosophischsten Diskussionsrunden des Tages ab.
Romanas dankte seinen Gästen und ermunterte die Menge, sie anschließend anzusprechen. „Darum geht es bei der Startup Fair — Interaktion von Mensch zu Mensch“, sagte er. „Wir bauen hier Brücken zwischen Technologie und Menschen, zwischen dem, was real ist, und dem, was als Nächstes kommt."
Als die Panelteilnehmer die Bühne verließen, blieb das Publikum noch und diskutierte weiter, ob künstliche Intelligenz jemals die chaotische, emotionale Brillanz menschlicher Zusammenarbeit ersetzen könne — oder ob, wie mehrere Redner andeuteten, die eigentliche Ambition nicht darin bestehe, Teams zu eliminieren, sondern neu zu definieren, was Teamarbeit im KI-Zeitalter bedeutet.
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Quelle: smarti
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